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Jens Sparschuh, geboren 1955 in Chemnitz.

© Doris Klaas

Roman von Jens Sparschuh: Fassadenarbeiten eines Einfallspinsels

Jens Sparschuhs munterer Roman „Das Leben kostet viel Zeit“ über den Kosmos Pflegeheim und den großen Romantiker Adalbert von Chamisso.

Titus Brose war mal Chefredakteur des „Spandauer Boten“. Nun schreibt er fremde Leben auf. Gegen eine fünfstellige Summe erzählen ihm Leute ihre Geschichte und er bastelt ein Buch daraus. Sein Arbeitgeber: LebensLauf. Es ermüdet den Westberliner, der sich in die Vorwendezeit zurücksehnt, dass es immer die langweiligen Leute sind, die ihr eigenes Leben lesen wollen. Seine Ehefrau Claudia, eine Lehrerin, die ihre Make-up-Routine „Fassadenarbeit“ nennt, spricht ihm gut zu. Sein Kollege Schulze übersteht den Arbeitstag nur mit einem großen Schluck Pfefferminzlikör. Er ist Schönschreiber und konstruiert seine Texte nach dem Baukastenprinzip. Gerade schreibt er über den Niedergang einer Brühwürfel-Dynastie. Der ehrliche Brose dagegen scheut die Phrase und sucht die Aufrichtigkeit.

Die meisten seiner Klienten stammen aus dem Alten Fährhaus, einem Altenheim vor den Toren Berlins, in dem es „gut nach schlechtem Essen“ riecht. Dessen Bewohner, eine Truppe skurriler Gestalten, nimmt das Altern so gelassen wie möglich, mit einem Hang zu Kalauern, hin. Ein Mann, den die Inkontinenz ereilt hat, sagt von sich, dass er „nicht ganz dicht“ sei, und eine Frau verabschiedet sich mit den Worten „Bis Baldrian“. Und dann gibt es noch Herrn Krampe, einen Verschwörungstheoretiker, dem eine Wahrsagerin im Teneriffa-Urlaub das ewige Leben prophezeite und der nun glaubt, dass ihm die Rentenkasse nach dem Leben trachte.

In einem gemütlichen Plauderton, der sich gelegentlich in die Syntax der vorletzten Jahrhundertwende kleidet, erzählt Jens Sparschuh in seinem Roman „Das Leben kostet viel Zeit“ aus dem Leben eines Einfaltspinsels. Titus Brose schaut fremden Frauen auf den Hintern, legt sich auf die Couch, um sich in aller Ruhe selbst zu analysieren, und rebelliert gegen die Bürgerlichkeit seines Umfelds, indem er den Seitenspiegel seines Autos nicht einklappt. Als er Chamissos Grab fotografiert, sinniert er darüber, dass man in seinen eigenen Grabstein doch statt der Lebensdaten seine Passwörter meißeln könnte, denn sie verrieten mehr über ihn als sein wirklicher Name.

Wie webt man Sinn in das eigene Leben?

Brose wird aus der Monotonie gerissen, als er im Alten Fährhaus Dr. Einhorn trifft. Der einstige Mitarbeiter des Märkischen Museums hat sein Leben dem großen Romantiker Adalbert von Chamisso verschrieben. Zwei Sonderausstellungen zu dem Literaten und Naturforscher scheiterten in den Neunzigern, doch er wird nicht müde, weiter zu forschen. Und Brose hilft ihm dabei. Es entsteht so etwas wie eine Freundschaft.

Mit seinem Memoirenschreiber in der Seniorenresidenz umreißt Jens Sparschuh leichtfüßig die Frage, wie man Sinn in das eigene Leben webt. Der Faden der Erzählung, das Nacheinander der Ereignisse produzieren Bedeutungen, die beruhigen. Inwieweit es narzisstische Impulse bedient oder therapeutische Wirkungen besitzt, wenn man aufgeschrieben sieht, was man jemandem erzählt hat, bleibt offen. Eine Frau namens Wanda merkt erst nach einigen Seiten, dass sie die Biografie eines anderen Menschen liest.

Überhaupt erstaunt es zunächst, dass sich der Roman bei der Profession seines Protagonisten nur am Rande für die Lebensgeschichten seiner Figuren, zumal der Kunden der Agentur LebensLauf, zu interessieren scheint. Doch letztlich ist das nur konsequent: Der Roman bedient sich gerade nicht der simplen Mechanismen der Sinnschöpfung, wie sie Brose und Schulze in ihre Werke fügen. Es bleiben Fragmente, amüsante Erinnerungssplitter, die in Titus Broses Vergangenheit führen.

Der Held ist ein ehrliches Gemüt, das an sich selbst zweifelt

Die größte Zuwendung erfährt denn auch das Leben des Adelbert von Chamisso, das Brose durch Lektüren rekapituliert und aus dem der Experte Einhorn erzählt. Es geht um Chamissos Expeditionen, seine 1813 geschriebene Märchenerzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ und seinen treuen Gefährten, Biografen und Herausgeber Eduard Hitzig, in dem sich Brose und Einhorn spiegeln.

Einmal erzählt Einhorn von Chamissos Gedicht „Das Dampfross“, das eine Eisenbahnfahrt imaginiert: „Ich habe der Zeit ihr Geheimnis geraubt, / Von gestern zu gestern zurück sie geschraubt“, heißt es dort. Die Schnelligkeit der Fahrt dreht den Zeitstrahl um und führt in die Vergangenheit, sagt Einhorn. Wer so auf sein Leben zurückblicke, könne erkennen, „was im Leben notwendig und was zufällig war“. Es ist diese Einsicht und Aussicht, die das Buch prägt.

„Das Leben kostet viel Zeit“ ist ein munterer Roman, der liebevoll den Kosmos Pflegeheim einfängt und ihn zu einem Hort der Schrulligkeit stilisiert. Sein Held, ein ehrliches Gemüt, das an sich selbst zweifelt, wird zum Sympathieträger. Einmal schenkt Titus Brose der Altenheimbewohnerin Lore Huber, deren verstorbener Mann vom Fliegen träumte, eine Ballonfahrt. Dabei hat sie einen Überblick über das Land, wie ihn wohl nur wenige über ihr eigenes Leben haben.

Jens Sparschuh: Das Leben kostet viel Zeit. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 384 Seiten, 20 €.

Jonas Lages

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