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Drama der Nachkriegsjahre. Johanna Diehl lässt im Video „Mars“ den israelischen Tänzer Yotam Peled durch eine Sammlervilla toben.

© Courtesy die Künstlerin und Galerie Wilma Tolksdorf Frankfurt/Berlin

Familiengeschichten in der Kunst: Großmutter, warum hast du nichts erzählt?

Berliner Fotokünstlerin Johanna Diehl ist die Nichte von Documenta-Gründer Arnold Bode. Im Haus am Waldsee stellt sie sich der schwierigen Familiengeschichte.

Sie hätte die Fotos im Familienarchiv lassen können: Ruhe im Karton. Auch hätte Johanna Diehl auf dem Konzertflügel zur Vernissage Schumanns „Träumerei“ spielen lassen können. Stattdessen hüpfen Silberlöffel, Zinntellerchen und Puderdosen über die Saiten des Flügels, auf denen ein Pianist scheppernde „Etüden für ein präpariertes Klavier“ erklingen lässt.

Die Performance ist als Videoinstallation im Haus am Waldsee zu sehen. Und schließlich hätte die Künstlerin die Sammler-Villa Domnick bei Stuttgart einfach abfilmen können. Doch in Diehls Video „Mars“ wütet ein nackter Tänzer durch die Räume voller Bauhaus-Möbel und Meisterwerke des Informel.

Johanna Diehl sucht „In den Falten das Eigentliche“, so der Titel ihrer Soloschau im Haus am Waldsee. Die 42-jährige Hamburgerin studierte zwischen 2004 und 2012 bei Timm Rautert an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Als Fotografin ist sie renommiert durch ihre Architekturserien, die auszugweise in der Ausstellung zu sehen sind.

Auf Zypern fotografierte sie Interieurs von ursprünglich christlich-sakralen Gebäuden, die zu Moscheen umgewidmet sind. In der Ukraine dokumentierte sie Synagogen, aus denen Turnhallen oder Kinos wurden.

Diehl beleuchtet auch in ihrer dreiteiligen Serie „Borgo, Romanitá und Alleanza“ (2012/13), wie kulturelle Umbrüche sichtbar werden – hier die Absurditäten faschistischer Architektur in Italien. Die ab 1924 für Mussolini errichteten Mustersiedlungen wurden nie bezogen. Die Potemkinschen Dörfer der „Borgi“ stehen teils heute noch.

Ambivalenzen und Widersprüche

„Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat“, schrieb Walter Benjamin, „stößt in den Falten auf längst Vergessenes“. Und auf lauter Ambivalenzen und Widersprüche, lässt sich ergänzen.

Als Kunsthistorikerin würde Johanna Diehl in die Kontexte von Kunstwerken eintauchen und die Gemälde von Willi Baumeister, Hans Hartung und Fritz Winter unter die Lupe nehmen, die zur Sammlung Domnick gehören.

Vielleicht hätte sie sich auch in den Streit um die erste Documenta 1955 eingemischt, an der nicht nur Baumeister, Hartung und Winter teilnahmen, sondern auch der überzeugte Nazi Emil Nolde. Die widersprüchliche Biografie des dennoch bedeutenden Expressionisten Nolde war erst zuletzt Gegenstand einer Ausstellung am Hamburger Bahnhof.

Und auf einem Symposium zur 55er-Documenta im Deutschen Historischen Museum kam zur Sprache, dass sie das Schaffen der Juden Max Liebermann, Felix Nussbaum und Otto Freundlich ignorierte. Im Publikum: Johanna Diehl, die Großnichte des Documenta-Gründers Arnold Bode.

Dialog der Bilder

Es ist die Geschichte zweier Familien aus Kassel, denen die Künstlerin im Haus im Waldsee nachspürt – und damit ihren eigenen Wurzeln, ihrer eigenen Biografie. Der inhaltliche Fokus liegt bei der väterlichen Linie. Und doch: Arnold Bode, der Onkel von Johanna Diehls Mutter, prägte den Begriff des „Visuellen Begreifens“, dem sich auch die Präsentation im Haus am Waldsee verpflichtet fühlt.

Bode sprach sich für einen Dialog der Bilder aus. Dementsprechend lösen Diehl und ihre Co-Kuratorin Katja Blomberg die Werkzyklen teilweise auf, konfrontieren ältere mit neuen Bildern, schieben Album- und Archivbilder zwischen genuine Diehl-Aufnahmen.

[Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 23. 2.; Di bis So 11 – 18 Uhr. Katalog (Walther König) 24 €.]

Eine Collage bringt symbolisch beide Familien zusammen, die sich vor der Heirat von Johannas Eltern nicht kannten. Diehl hat eine Pferd-Reiter-Skulptur des Documenta-Künstlers Marino Marini mit einer Aufnahme von ihrer Großmutter väterlicherseits verschnitten: Frau mit Pudel sitzt auf einer Bank und blickt gelassen in die Landschaft.

Großmutter Diehl und Marinis vom Schrecken des Krieges kündende Plastik, das sind zwei Welten.

Ein Monument des Schweigens

Dabei hat diese Großmutter den Zweiten Weltkrieg miterlebt. 2017 nahm die Enkelin bereits an einer Ausstellung im Haus am Waldsee teil. Ihr Beitrag „Ein ruhiger Tag, 1936-2009“ bezog sich auf die Tagebücher der Großmutter: 73 Jahre voller Banalitäten, Verabredungen, Terminen – kein Wort über Deportationen, Überfälle, Krieg und Trümmer, Wettrüsten, Mauerfall.

Ihr Ehemann fällt im Krieg, was sie nicht erwähnt. 1983 nimmt sich ihr Sohn das Leben, auch darüber keine Zeile. Aus den verschiedenfarbigen Tagebuch-Einbänden schuf Diehl eine 73-teilige Farbfeldserie. Ein Monument des Schweigens. In der neuen Ausstellung sind einige Wände in jenen ruhig-beunruhigenden Farbtönen gestrichen.

Wenn die Zeitzeugen schweigen, lassen sich vielleicht doch die Gegenstände und Bilder ihres Lebens zum Sprechen bringen – und Klingen. Die Schälchen, Becher und Schüsseln im schon erwähnten Klavier stammen aus großmütterlichem Besitz.

Zur Videoarbeit „Broken repertoire“, in der ein Pianist dem Instrument Misstöne entlockt, ließ sich Diehl von einer Theateraufführung des im Juli verstorbenen Regisseurs Johann Kresnik inspirieren, in dem ein präpariertes Klavier eine Rolle spielt.

Zweimal adaptierte Kresnik das Buch „Mars“ von Fritz Zorn für die Bühne, in dem der Schweizer Autor sein Leiden an einer sprachlosen Gesellschaft thematisiert. Das Buch wurde wiederum zum Ausgangspunkt für eine weitere Videoarbeit, diesmal mit dem israelischen Tänzer Yotam Peled.

Eine Reihung von Leerstellen

Der Ausstellungsparcours im Haus am Waldsee ist bewusst lückenhaft gehalten, holprig, das Gegenteil eines schnurgeraden Narrativs. Eine Diehl-Fotoserie zeigt Körperprothesen, die Kresnik 1995 für eine provokative „Hänsel und Gretel“-Inszenierung an der Berliner Volksbühne herstellen ließ: Grimms alleingelassene Märchenkinder.

Diehl kontrastiert sie mit heiteren Albumfotos privater Reisen der Großmutter mit ihrem zweiten Mann. Wirtschaftswunderjahre. Der Sohn wurde im doppelten Wortsinn „nicht mitgenommen“, es muss eine bleierne Kindheit gewesen sein. Das 1977 erschienene Kultbuch „Mars“ war damals auch für Johanna Diehls Vater ein wichtiges Buch. Gerettet hat es ihn nicht.

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Diehls Ausstellung ist kein Enthüllungsroman. Ihre Familiengeschichte ist nur eine persönliche Basis, von der aus sich Erinnerungskultur und Gesellschaft charakterisieren lassen. Die fordernde, mitunter sogar arg verwinkelte und verästelte Präsentation zeigt Bilder, die von der Ambivalenz, vom Nichtwissen, von der Sprachlosigkeit geradezu imprägniert sind.

Es ist eine Reihung voller Leerstellen, denn auch für die Kunst gilt: Das Eigentliche ist in den Faltungen verborgen – oder vielleicht für immer verschwunden.

Jens Hinrichsen

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