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Szene aus "Familienleben" von Rosa Hannah Ziegler

© Matteo Cocco

Familien-Dokus im Berlinale Panorama: Wenn das Handy zur Reliquie wird

Streit der Generationen: Dokus über Familien aus Deutschland, Bulgarien und China im Berlinale Panorama.

Wenn Alfred sich aufregt, geht er in den ehemaligen Stall, der jetzt voll dicker Baumstämme liegt. An denen kann sich der Mann mit Schnauzbart und Cowboyhut gut austoben, erzählt er. Er erzählt nicht, dass er sich manchmal auch an Ex-Freundin Biggi abreagiert. Die beiden sind als Paar getrennt, leben aber immer noch zusammen auf einem alten Hof in Sachsen-Anhalt, wohl weil es an Wohnalternativen mangelt.

Als Kind war Alfred im Heim, wo jetzt auch eine von Biggis Töchtern ab und zu landet. Den beiden Mädchen sieht man an, wie sich seelische Wunden über Generationen vererben, als Grauschleier über noch junges Leben legen: Ängste, Selbstverletzungen, Mobbing, auch Ausbruchsfantasien. Und Liebesprojektionen auf einen drogenabhängigen Mann, der erst mit der einen, dann mit der anderen Tochter geht. Irgendwo zwischen den Hunden steht die Kamera von Matteo Cocco, die die familiäre Interaktion unaufdringlich registriert. Regisseurin Rosa Hannah Ziegler montiert für „Familienleben“ solche Beobachtungen mit Erzählungen aller vier Personen und sparsamen Musikakzenten. Am Ende gibt es doch einen kleinen Ausbruch. Doch die Blicke der Mädchen bleiben leer.

Post-kommunistische Paranoia

An den Reibungen zwischen Bojina Panayotova und ihren Eltern ist vor allem das Filmprojekt der Tochter schuld, die in „Je vois rouge“ selbst Regie und Kamera macht. Nach 25 Jahren kehrt die frisch ausgebildete Filmemacherin in ihr Geburtsland Bulgarien zurück, um der befürchteten Komplizenschaft ihrer Familie mit dem realsozialistischen Staat nachzuspüren. Wie sonst ließen sich die vielen Privilegien der Großeltern und Eltern erklären?

Bojina Panayotova kehrt in „Je vois rouge“ nach Bulgarien zurück.
Bojina Panayotova kehrt in „Je vois rouge“ nach Bulgarien zurück.

© Stank

Bojina befragt die Eltern mit dem Rigorismus der Jugend. Die Hobby-Detektivin inszeniert sich dabei mit Riesenbrille als hochbegabte Nervensäge und ihren Film als fast karikaturesk selbstreflexive Variante des Genres Familienrecherche. Schade, dass die mit modischer Split-Screen-Optik auch visuell übermütige Doku-Komödie über post- kommunistische Paranoia im Epilog mit der eigenen Mutterschaft der Regisseurin und töchterlicher Abbitte an die Eltern sehr handzahm endet.

Traditionelle chinesische Familienwerte

Solche Versöhnung ist bei Yao nicht in Sicht. Denn trotz jahrzehntelanger Ein- Kind-Politik sind im ländlichen China traditionelle Familienwerte und der Wunsch nach Kinderreichtum noch sehr präsent. Doch Yao ist heimlich schwul. Und so kann der (uns jung erscheinende, für seine Eltern schon bedenkliche alte) Mann den sehnlichen Wunsch seines sterbenskranken Vaters und seiner taubstummen Mutter nach Ehefrau und Enkeln nicht erfüllen. Auch der Rest der Familie drängt. Dabei hilft auch nicht, dass Yao mit Arbeit in Peking beim Fernsehen dem Rest der Familie Wohlstand gebracht hat. Wie viele andere Chinesen und Chinesinnen in ähnlicher Situation schindet er Zeit, zeigt Fotos einer Kollegin als künftiger Ehefrau. Doch als er zum obligatorischen Neujahrsbesuch ins elterliche Dorf reist, ist statt der Braut ein New Yorker Filmemacher an seiner Seite. Das führt im Dorf zu naheliegenden Vermutungen. Man fragt sich, warum der Regisseur seinen Protagonisten überhaupt in solche voraussehbaren Schwierigkeiten bringt.

Thematisiert wird dies im Film nicht. Was dem mangelnden Respekt des Filmemachers gegenüber seinem Sujet entspricht – auch in anderen Situationen, etwa wenn die Kamera dem sich windenden Vater minutenlang auf den Leib kriecht. So bleibt bei dem in grobdüsterem Schwarzweiß gedrehten „The Silk and the Flame“ ein unguter Geschmack sozialer Exploitation zurück. Das Ende ist so eindrucksvoll wie traurig. Als Yaos vorgebliche Verlobte sich beim Fest wirklich über Skype mit Glückwünschen meldet, gerät die versammelte Verwandtschaft in kollektive Hysterie, das Handy mit ihrem sprechenden Gesicht wird als leuchtende Reliquie von Hand zu Hand durch den dunklen Raum gereicht. Für Yao ein kurzer Moment der Erleichterung, der auf eine schwere Zukunft verweist.

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