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Kultur: Europäischer Theaterpreis in Taormina: Das Überflüssige im Überfluss

Es gibt auf der ganzen Welt wahrscheinlich nur einen Schauspieler, der den Oscar verdient hätte und der den Europäischen Theaterpreis gewonnen hat: Michel Piccoli. Es lässt sich auch keine größere kulturelle Differenz denken als jene, die zwischen dem Global-Spektakel Hollywoods liegt und der legeren Exklusivität des "Premio Europa per il Teatro".

Es gibt auf der ganzen Welt wahrscheinlich nur einen Schauspieler, der den Oscar verdient hätte und der den Europäischen Theaterpreis gewonnen hat: Michel Piccoli. Es lässt sich auch keine größere kulturelle Differenz denken als jene, die zwischen dem Global-Spektakel Hollywoods liegt und der legeren Exklusivität des "Premio Europa per il Teatro". Der Preis von Taormina, der am Wochenende seine neunte Auflage erlebte, ist dotiert mit 60 000 Euro, und seine Verleihung zieht sich über vier Tage hin. Ein kleines Festival, ein mediterranes Gelage: Was wäre luftiger und ephemerer als die Idee des europäischen Theaters?

Ariane Mnouchkine, Peter Brook, Heiner Müller, Giorgio Strehler, Pina Bausch und Bob Wilson, der Amerikaner, haben vor Michel Piccoli die Auszeichnung davongetragen - die Crème der europäischen Regiekunst im Theater. Man muss also schon ein Leben und ein Werk (hinter sich) haben. Ein Blick auf diese noble Galerie löst das Rätsel um den Preisträger des Jahres 2001: Denn Piccoli, der König des französischen Kinos, hat auf der Bühne stets mit Berühmtheiten gearbeitet, mit früheren (und zukünftigen?) Europa-Preisträgern: Brook und Wilson, Patrice Chéreau und Luc Bondy.

Piccoli kommt vom Theater. 1945, als 25-Jähriger, gab er in Paris sein Debüt. Er spielte in den fünfziger Jahren bei Jean Vilar und Jean-Louis Barrault, ehe er 1963 mit "Le Mépris" (Die Verachtung) von Jean-Luc Godard zum Filmstar avancierte. Der Rest ist Kinolegende: "La Belle du Jour", "Themroc", "Das große Fressen", "Das Mädchen und der Komissar" - selten vergisst man einen Film, wenn Michel Piccoli, das monstre sacre, ihm seine Präsenz aufprägt. Michel Piccoli ist erstaunlicherweise der erste Schauspieler, der mit dem "Premio Europa" ausgezeichnet wurde. Und da man in Taormina auf Internationalität ausgeht, waren Kinomythen hochwillkommen. Die Ehre, für die sich Piccoli wortreich bedankte, schmückt den Preis nicht weniger als den Preisträger. Wie bei den meisten europäischen Institutionen gibt es auch in Taormina einen gewissen Legitimationsdruck. Es ist herrlich, sich unter dem Ätna zu treffen, um über Theater zu reden und Theater zu erleben. Doch über dem Festival mit seiner angesichts des sizilianischen Frühlings leicht zu vernachlässigenden Tagesordnung schwebt stets die Frage des Warum.

Warum also nicht? In diesem Jahr fand Michel Piccoli bei dem sizilianischen Dramatiker und Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello eine Antwort. "Zwar fehlt es uns am Nötigsten, aber von allem Überflüssigen haben wir mehr als reichlich." Der Zauberer Cotrone, der Magier in Pirandellos nachgelassenem Mysterienspiel "Die Riesen vom Berge", spricht dieses große Wort gelassen aus. Ein sagenumwobenes, unvollendetes Künstlerdrama.

Da das moderne Festival-Zentrum in Taormina nicht den poetischen Rahmen bietet, fuhr man nach Catania, um Piccoli auf der Bühne zu erleben. Piccoli und Pirandello im Teatro Massimo Bellini, wo man das Fauchen des Leoparden von Lampedusa noch zu hören glaubt.

Auch der Name Klaus Michael Grübers schwebt über der Szenerie. Mit Grüber hat Piccoli vor zwei Jahren in Paris Fragmente der Pirandello-"Riesen" entwickelt. Und jetzt hat er noch einmal, nur einmal, die alten Zaubertricks hervorgeholt. Piccoli als Cotrone auf der Bühne des Teatro Bellini, das diesen Riesen schier verschluckt: ein ephemeres Märchen. Piccoli rezitiert Pirandellos Weisheiten aus der Scheinwelt des Theater-Daseins auf Französisch, und seine Partner sind Kinder aus Sizilien, die noch keine fremde Sprache sprechen. Piccoli, ein mild gestimmter, großväterlicher Spielbudenherrscher. Eine kurze Stunde im Olymp - und man sieht, wie so ein Gott sich selbst gefällt und sein Werk gut heißt und wie nah Kitsch, Grandezza, Sentimentalität und Weisheit manchmal beieinander liegen. Das Überflüssige im Überfluss: In Taormina gleitet man durch Randzonen und Zentren des Theaters. Der Moskauer Regisseur Anatolij Vassiljev, Preisträger früherer Jahre, geistert durch die Gassen des alten Bergstädtchens, und wer erinnert sich noch daran, dass er vor langer Zeit einmal geniale Pirandello-Inszenierungen schuf?

Neben dem großen Preis verleiht die Taormina-Jury den mit 20 000 Euro dotierten "Preis für neue Realitäten". Er ging im letzten Jahr unter anderem an Thomas Ostermeier von der Berliner Schaubühne. Auch diesmal ist ein Deutscher dabei, der Komponist und Performer Heiner Goebbels. Doch der Star von Taormina heißt Alain Platel. Der 42-jährige Flame reißt das Publikum zu Jubelstürmen hin. Platel teilt sich den kleinen, vielleicht sogar wichtigeren Preis mit Goebbels, doch was für ein Unterschied! Hier die kühl berechnete Konstruktion, am Rand der Avantgarde-Karikatur, dort die erschütternde, vulkanische Messe der Tänzer, Schauspieler, Zirkuskünstler in "Iets op Bach". Das Stück war schon zwei Mal in Berlin zu sehen, doch Platels Schöpfung bleibt unbegreiflich. Das Heilige und das Zeitgenössische, Schmerz und Orgie, Bach-Kantaten und Rock-Musik verschmelzen in kaum erträglicher Intensität. Und über all dem schwebt Alain Platels Ankündigung, nicht mehr inszenieren zu wollen: Neue Realität - schon verloren?

Ein Kritiker sagte, die Welt werde sich teilen in Menschen, die Platel gesehen haben, und in Menschen, die ihn nicht erleben durften. In Taormina geht so ein Satz leicht über die Lippen. Das ist das Geheimnis. Deshalb reist man nach Sizilien. Für das nächste Jahr sind Andrzej Wajda, Klaus Michael Grüber oder sogar Peter Stein als Preisträger im Gespräch. Die zehnte Auflage des Premio Teatro hängt die hohe Latte noch ein Stückchen höher.

Rüdiger Schaper

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