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Heiliger Bimbam. Freischwingende Glocken, wie diese Friedensglocke, sind eine europäische Erfindung.

© Imago/Imagebroker

Europäisches Kulturerbejahr 2018: Wozu brauchen wir heute noch Kirchenglocken?

Seit jeher gelten sie als Zeichen der Verständigung: Zum Weltfriedenstag am 21. September, genau um 18 Uhr, sollen überall in Europa die Glocken läuten.

Der „Dicke Pitter“ schweigt. Ausgerechnet jetzt, kurz vor seinem hundertsten Geburtstag hat er Konkurrenz bekommen. Seit 1923 galt die Glocke im Kölner Dom mit ihren 24 Tonnen als die größte freischwingende Glocke der Welt. Bis im November 2016 die Grassmayrs in Innsbruck ein Monstergeläut für die neue Nationalkathedrale in Bukarest gossen. 25 190 Kilo – ein Weltrekord.

Doch das ist nicht der Grund, weshalb das Geläut in Köln plötzlich verstummte. „Der Klöppel war gebrochen“, sagt Sebastian Wamsiedler, der als Campanologe so ziemlich alles über Glocken weiß. Jetzt tüftelten Forscher vom Europäischen Glockenzentrum ProBell in Kempten an der Aufhängung. Kein leichtes Unterfangen bei so einem Giganten. Man habe damit einfach wenig Erfahrung.

Glocken haben den Menschen seit jeher begleitet. Ihr Klang legt sich wie ein Schleier über das gesamte Abendland. Doch ihr Ursprung liegt ganz woanders. „Die Urglocke kommt aus China“, sagt Wamsiedler. Und sie machte viele Umwege, bevor sie in Europas Kirchtürme gelangte. Bereits 80 nach Christus erwähnt der römische Dichter Martial in einem Epigramm ein „tintinnabulum“, ein Glöckchen also, das als Versammlungszeichen bei der Eröffnung der Bäder diente. Im Mittelalter waren Glocken unter Wandermönchen verbreitet. Als sich die Missionare aus dem Kloster des schottischen Iona auf den Weg nach Europa machten, nahmen sie geschmiedete Eisenblechglocken mit. Auch der Heilige Patrick hatte so eine Handglocke.

Glocken sind Kulturgut

„Erst seit etwa tausend Jahren werden Glocken in der Liturgie eingesetzt“, sagt Wamsiedler. Karl der Große ließ sie überall in seinem Reich aufhängen, als Gebetszeichen. Wann und wie eine Glocke erklingt, wird bis heute in einer Läuteordnung festgelegt.

Auch das Glockengießen ist ein uraltes über Jahrhunderte tradiertes Handwerk. Auf der Suche nach dem perfekten Klang veränderte sich allerdings die Formgebung. „Freischwingende Glocken sind eine europäische Erfindung“, sagt Wamsiedler. Friedrich Schiller war von ihrer Herstellung so fasziniert, dass er darüber eine Ballade, sein berühmtes „Lied von der Glocke“ verfasste. „Von der Stirne heiß/Rinnen muß der Schweiß/Soll das Werk den Meister loben/Doch der Segen kommt von oben“, heißt es dort.

Heute machen neue Technologien die Arbeit einfacher als damals. Doch immer mehr Gießereien schließen. Hunderte gab es einst in ganz Europa. In Deutschland sind nur noch sechs erhalten. „Zum Glück“, sagt Wamsiedler. Denn Glocken sind ein Kulturgut. Mehr als 100 000 soll es hierzulande geben. 2017 startete die bundesweite „klingende Glockendatenbank“, die möglichst alle erfassen will.

Ihr Klang ist ein physikalisches Rätsel

Jede einzelne Glocke ist in vielerlei Hinsicht ein Unikat und hat viel zu erzählen. Über den Ort, an dem sie klingt und über die Zeit, in der sie entstanden ist. „Viele mittelalterliche Glocken haben aufwendige Verzierungen“, sagt Wamsiedler. Das macht sie künstlerisch durchaus wertvoll. Sie können auch polarisieren, wie die Hitler-Glocken mit Hakenkreuz aus der NS-Zeit. Die meisten Glocken läuten aber für den Frieden: „O König der Herrlichkeit, komme in Frieden“. Diese Formel gehöre zu den ältesten nachzuweisenden Glockeninschriften überhaupt, sagt Wamsiedler.

Der Klang der Glocke ist einmalig – und ein physikalisches Rätsel. „Der Grundton, den wir hören, ist eine subjektive Empfindung, die erst im menschlichen Ohr entsteht“, erklärt Wamsiedler. Messen könne man nur die vielen Teiltöne, die ihn ausmachen. Insofern hat Heimat für jeden Menschen ihren ganz eigenen Glockensound. „Früher konnten Menschen den Code hinter dem Glockenläuten entschlüsseln“, sagt Wamsiedler. Jetzt ginge das Wissen verloren.

Ein starkes Zeichen des Friedens

Um das Bewusstsein für den Wert dieses Kulturerbes zu schaffen, sollen am diesjährigen Weltfriedenstag um genau 18 Uhr erstmals in der Geschichte europaweit kirchliche und säkulare Glocken gemeinsam läuten. Und ein starkes Zeichen des Friedens senden. „Dieses gemeinsame Klingen und Schwingen eröffnet eine akustische Vision einer europäischen Verständigung, die wir dringend nötig haben“, sagt Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Der „Dicke Pitter“ wird es bis dahin wohl nicht schaffen. Mag sein, dass dann aber Wamsiedlers Lieblingsglocke schwingt. Sie hängt im vorpommerschen Glewitz, ist auf den Ton g1 gestimmt und soll bezaubernd klingen.

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