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Dichter und Denker. Die lebensgroße Bronzestatue von Friedrich Hölderlin in Nürtingen, wo der Dichter seine Kinder- und Jugendjahre verbrachte.

© imago/7aktuell

Jubiläen des Jahres: Es ist Zeit, dass es Zeit wird

Hegel, Hölderlin, Beethoven und Celan: Was uns die Jubiläen dieses Jahres lehren können.

Was bewegen, was bewirken wohl all die großen schönen Jubiläen, die in der Kulturwelt immer wieder gefeiert werden? Natürlich bieten sie Anlässe für Ausstellungen, Bucheditionen, Symposien, Konzert- oder Filmreihen. Seltener sind dagegen Denkmalsenthüllungen geworden.

2020 waren aus dem Geniejahrgang 1770 die 250. Geburtstage von Friedrich Hölderlin, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und eben gerade noch Ludwig van Beethoven dran; dazu hat man gleich zweifach des Dichters Paul Celan gedacht, der vor 100 Jahren geboren wurde und vor einem halben Jahrhundert gestorben ist. Obwohl die Forschungen zu Leben und Werken nie ruhen und über alle vier Jubilare im Laufe des Jahres zahlreiche kluge neue Bücher erschienen sind, wird hier niemand behaupten, dass einer in diesem illustren Quartett heute noch eigens entdeckt werden müsste.

Nein, der Kick bei derlei Jubiläen ist die fokussierte Anregung, im uferlosen Meer der Personen und Phänomene überraschende Verbindungen, Analogien, Geistesverwandtschaften zu finden. Um angesichts von bestimmten Idolen auch ihre Spiegelungen oder Schatten im Laufe der weiteren Geschichte, nicht nur der Kunstgeschichte, als Facetten des eigenen, heutigen Weltbilds zu ergründen. Alexander von Humboldt war da zuletzt ein bedeutendes, fortwirkendes Beispiel.

Hegel und Hölderlin lernten zusammen im Tübinger Stift

Hinzu kommt oftmals die Mischung aus historischem Zufall und nachgetragenem, zurückprojizierten Einfall, aus der sich die geisterhafte Präsenz eines alten Werks, eines biografischen Details, einer einzelnen Formulierung ergibt. So zitiert Jürgen Kaube in seiner reichhaltigen neuen Biografie „Hegels Welt“ (Rowohlt-Berlin), aus der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ Hegels Bemerkung: „Krankheiten, die Epidemien oder Seuchen sind, sind nicht als ein Besonderes zu fassen…“ Sie gehören, auch wenn wir sie verdrängen oder bekämpfen, zur Wirklichkeit.

Das liest sich dieser Tage doch gegenwärtiger, als es noch vor einem Jahr der Fall gewesen wäre. Zumal Hegel selbst vielleicht nicht an, indes wohl mit der damals in Preußen grassierenden Cholera gestorben ist. Im November 1831 im nicht mehr existenten Haus am Berliner Kupfergraben 4a. Daneben wohnt heute die Bundeskanzlerin.

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Apropos Wirklichkeit. Über Hegels berühmten Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ hatte sich schon Heinrich Heine mokiert. Laut Heine soll Hegel sich ihm gegenüber im Gespräch freilich dahin korrigiert haben, dass er befand: „Alles was vernünftig ist, muss sein.“ Hegel wollte, über viele Widersprüche hinweg, den deutschen Idealismus in der universellen Realität durch den Sieg des vernunftgetragenen Weltgeists vollendet sehen. An solchem Fortschritt mag man längst zweifeln. Aber auch Hegels ursprünglicher Satz vom Zusammenhang zwischen Faktischem und Vernünftigem gewinnt angesichts der jüngsten politischen Seuche namens Fake News einen neuen, widerständigen Sinn.

Der Schwabe Hegel lernte als Jüngling im Tübinger Stift, zusammen mit dem gleichaltrigen Schüler Hölderlin und dem späteren philosophischen Kollegen Schelling. Anders als seine beiden Freunde soll der junge Hegel noch lieber in Bierlaune als in Sinnierlaune gewesen sein. Hölderlin, der Sprachmächtigste, aber trieb das Denken vom Philosophischen alsbald ins Poetische, fand den Sinn zunehmend auch im Wahnsinn. Wobei mit diesem Wort bei Hölderlin nicht nur das klinisch Pejorative, vielmehr auch das fantastisch imaginative Wähnen anklingen soll. Richard Wagner, eine Generation später ein glücklicherer Künstler als Hölderlin, endete dann nicht im Turm. Er baute sich, „wo mein Wähnen Frieden fand“, darum in Bayreuth sein Haus Wahnfried.

Denker und Dichter. Paul Celan, deutschsprachiger Lyriker rumänischer Herkunft, geboren vor 100 Jahren.

© picture alliance/dpa

Ein Sprung. Aus der Ferne sehr nah war der schwäbische Hölderlin dem 150 Jahre später in Czernowitz geborenen deutschsprachigen Dichter aus der Bukowina, jener nach dem Ersten Weltkrieg vom untergegangenen Habsburgerreich zunächst an Rumänien gefallenen ostmitteleuropäischen Provinz. Paul Antschel, der sich später im eleganten Anagramm Celan nannte, hat schon als 14-jähriger Gymnasiast dort selbst gedichtet und immerzu Lyrik gelesen. Rilke war sein erster Heros, die beiden Dunkleren, Hölderlin und Georg Trakl, folgten gleich nach. Das bekräftigen nun mehrere frühe Freunde und Freundinnen in dem gerade erschienenen, den Reigen der Jubiläumsbücher beschließenden Band „Mit den Augen von Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan“ (Suhrkamp Verlag).

Bemerkenswert in dieser von Petro Rychlo herausgegebenen Sammlung ist auch der Beitrag des Münchner Schriftstellers und Filmemachers Klaus Voswinckel, der mit einer Doktorarbeit 1975 wohl als erster über Celan promoviert hat. Voswinckel besuchte Celan deshalb mehrmals in Paris, wohin der jüdische Dichter 1948 via Bukarest und Wien ausgewandert war – nach dem Verlust der Eltern im Holocaust und dem eigenen Überleben in einem Arbeitslager der mit den Deutschen verbündeten rumänischen Faschisten.

Voswinckel berichtet unter anderem von einem Pariser Treffen Ende der 60er Jahre, bei dem Celan „in einem Gespräch über Deutschland, das ihm nach wie vor Angst machte“ plötzlich auf Hegel zu sprechen kam. Für ihn, der jedes Wort auf seine Bedeutungen abhorchte, war Hegels dreifacher Begriff der „Aufhebung“ wichtig: im Sinne, etwas vom Boden aufzuheben, etwas zu annullieren oder etwas aufzuheben, um es zu bewahren.

Missbraucht von den Nazis wurde Hölderlin zum Idol der 68er

Ein Schlüsselbegriff für den Widerstreit von Tradition und Moderne, enthalten auch in Adorno/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, wenn darin Odysseus’ List zitiert wird, den tödlichen Zaubergesang der Sirenen zu genießen und ihm gleichzeitig zu entkommen. Darin steckt zudem etwas von „Celans Zerrissenheit“, so der Titel von Helmut Böttigers lesenswerter Studie „Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist“ (bei Galiani, Berlin). Celan suchte die Anerkennung der von ihm zugleich gefürchteten deutschen Öffentlichkeit, die ihm seit Anfang der 50er Jahre teils mit Verehrung, teils noch mit antisemitischer Verachtung begegnet war. Damals hatten Literaturkritiker deutscher Zeitungen es geschafft, in der frühen „Todesfuge“ ein Bild wie das „Grab in den Lüften“ nicht mit den Opfern der Vernichtungslager in Verbindung zu bringen. Und Hans Egon Holthusen, einst ein Name, nannte noch 1964, im Angesicht des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, bei einer Besprechung von Celans Band „Die Niemandsrose“ in der „FAZ“ die Wendung „Mühlen des Todes“ eine „in X-Beliebigkeiten schwelgende Genitivmetapher“.

Trotzdem war der skrupulöse, von seinen Verfolgungsängsten traumatisierte Dichter Celan fasziniert vom einst nazistisch orientierten Schwarzwaldphilosophen Martin Heidegger, mit dem er das Interesse an Hölderlin teilte und ihm 1967 sein verhohlen kritisches, fragendes Poem „Todtnauberg“ widmete. Das gewiss schönere, tiefere Celan-Gedicht aber galt mit dem Titel „Tübingen, Jänner“ zuvor bereits dem Dichterbruder im Geiste. Der Turm am Neckarufer, Hölderlins letzte Wohnstatt, vervielfältigt sich darin, es werden „schwimmende Hölderlintürme“. Nahe ist auch das Ertrinken (das Celan später beim Suizid in der Seine widerfuhr), und ein Beschwören kommender, vergangener, aufgehobener Zeit.

„Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ,Was ist deutsch?‘ niemals ausstirbt.“

Sie ist ein existenzieller Schlüsselbegriff, trifft auch Heideggers „Sein und Zeit“. Ausgerechnet in Celans Gedicht „Corona“ von 1948, das mit einer Formulierung dem ersten Lyrikband „Mohn und Gedächtnis“ den Titel gab und dort direkt vor der „Todesfuge“ steht, lesen wir jetzt wieder die beiden letzten, emphatisch doppeldeutigen Verse: „Es ist Zeit, daß es Zeit wird. // Es ist Zeit.“

Von Nietzsche stammt das Bonmot: „Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ,Was ist deutsch?‘ niemals ausstirbt.“ Ein anderes, naturgemäß späteres Bonmot besagt: Die Österreicher haben aus Hitler einen Deutschen und aus Beethoven einen Österreicher gemacht. Jedenfalls war auch Beethoven ein Widersprüchlicher. Ein Revolutionär der Musik, nicht der Politik. Doch haben ihn Hitler und Stalin gebraucht. Missbraucht. Radio BBC wiederum intonierte seine Auslandssendungen gegen die Nazis mit den ersten Takten der Fünften Sinfonie, und die „Ode an die Freude“ ist zur Europa-Hymne geworden. Allerdings mit Schillers Text. Beethovens Zeitgenossen Hölderlin haben die Nazis in ihren Feldpostausgaben gedruckt, mit seinen dem historischen Kontext entrissenen, den Tod fürs Vaterland verklärenden Versen („Lieb ich, zu fallen am Opferhügel“) – während um 1968 der für die Französische Revolution begeisterte, die Deutschen und den Staat zugleich verwünschende Hölderlin zum linken Idol stilisiert wurde.

Jubiläen entspringen zunächst nur dem Kalender. Aber wie im Fall des diesjährigen literarisch-philosophisch-musikalischen Quartetts erweist sich jenseits von Zufall und unmittelbarer Kausalität, dass zwischen den Zeiten und Geistern als Subtext der Geschichte oft abenteuerliche Zusammenhänge bestehen. Das vermeintlich Ferne ereilt so im Gedankenflug die Gegenwart, die keine Zukunft hat ohne Vergangenheit. Ebendies ist im Kern: Erinnerungskultur. Das Gedächtnis siegt über das Vergessen. Denn nicht alles, aber vieles wird: verändert und aufgehoben.

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