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Maier-Roman "Das Haus": Es gibt kein besseres Früher

Auf der Suche nach den verlorenen Lebensgeräuschen: Nach dem Roman "Das Zimmer" setzt der hessische Schriftsteller Andreas Maier mit "Das Haus" seine Familiensaga fort. Die Hauptfigur dieses Mal: der Ich-Erzähler als kleiner Andreas, als "Problemandreas".

Von einem Verlust ist in diesem Roman gleich zu Beginn die Rede, von einer verlorenen Welt. Andreas Maier erinnert sich, wie er als Kind aus seinem Zimmer auf einen Fluss namens Usa blickte, auf Bäume, die das Ufer des Flusses säumten und in denen im Frühjahr die Vögel saßen und sangen. „Damals war ihr Gesang noch ungeschieden und einheitlich. Ich lernte die Stimmen erst, als das Zimmer, das Haus und die Welt, auf die hin es sich öffnete, verloren waren, wie auch das Geräusch der Usa, das mein Lebensgeräusch war.“

Das Zimmer, das Haus, die Welt, und zwar die seiner Kindheit, aber auch die der bundesrepublikanischen Provinz – all das versucht der 1967 geborene Frankfurter Schriftsteller Andreas Maier wiederzufinden und wiederaufzubauen in „einer großen Familiensaga“, wie es im Klappentext seines 2010 veröffentlichten Romans „Das Zimmer“ hieß.

Der zweite Teil dieser Saga heißt nun „Das Haus“ und ist erneut in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren angesiedelt, im Mühlweg im hessischen Friedberg, einer Gemeinde im Wetteraukreis. Dort steht das besagte Haus, das Maiers Eltern bauen und beziehen, als er drei Jahre alt ist. Kurz nach dem Umzug soll der kleine Andreas auch in den Kindergarten kommen, „und damit setzen meine Erinnerungen an mich, meine Familie und das Haus eigentlich erst ein“. Nicht ohne Grund: Der erste Kindergartentag ist für Maier ein einziges Trauma, es ist zugleich sein letzter Tag im Kindergarten.

War es in „Das Zimmer“ der seit seiner Geburt geistig behinderte Onkel J, den Maier in das Zentrum seiner Erinnerungen und der Erkundung seiner Heimat rückte, so ist nun der Ich-Erzähler selbst die Hauptfigur: als kleiner Andreas, als „Problemandreas“. Wie Onkel J. ist auch er ein Außenseiter, ein Sonderling. Ein Junge, mit dem etwas nicht zu stimmen scheint, der früh von den Eltern zum Arzt gebracht wird, „denn ich sprach nicht, sagen sie, lange Zeit nicht, kein Wort, und ich hätte mich absonderlich bewegt“.

Diesen Jungen begleitet Andreas Maier in „Das Haus“ bis in die frühe Schulzeit. Doch so merkwürdig und verschroben und vielleicht nicht ganz richtig im Kopf der kleine Andreas seinen Eltern, seinen Geschwistern und seiner sonstigen Umgebung erscheint, so merkwürdig und verschroben und falsch kommt dem Jungen wiederum seine Umwelt vor. Die Mutter, die für jeden noch so kurzen Weg das Auto nimmt. Der Vater, der über seine Zeitung gebeugt desinteressiert Fragen stellt. Der fünf Jahre ältere Bruder, der sich mit allen und allem bestens arrangiert, und die Schwester, die „öfter plötzlich laut aufschrie oder zu heulen begann oder ihr Käsebrot gegen die Wand warf“. 

Und natürlich die anderen Kinder, gerade wenn sie als Gruppe auftreten, ob draußen beim Spielen oder später in der Schule. „Überall war das Unechte im Raum“, schreibt Andreas Maier über seinen einzigen Tag im Kindergarten, „im Bezug der Kinder zu den anderen Kindern ebenso wie in ihrem Bezug zur Aufsichtsperson, sie folgten der unechten Aufsichtsperson trotz deren Unechtheit, und ihr Folgen war auch unecht.“

Von fehlender „Wahrheit“ spricht Maier dann noch im Zusammenhang mit seinem Kindergartenerlebnis. Offensichtlich wurde dieses „Unechte“, die Wahrheitslosigkeit dem damals Dreijährigen erst als Erwachsenem bewusst. Trotzdem spürt man selbst bei der Lektüre den Kloß, den Andreas Maier immer dann zu spüren glaubte, wenn er wieder einmal nicht in die Schule wollte.

Denn „Das Haus“ ist auch das Porträt eines vermeintlichen Problemkindes, das nicht so will, wie die Eltern und die Umgebung wollen, das sich gegen gesellschaftliche Zurichtungen wehrt, das am liebsten allein ist: in seinem Bastelraum im Keller oder überhaupt im Haus, wenn alle anderen nicht da sind. Und besonders nachts, wenn alles still ist, wenn es den Kopf hin und her wiegt und die Lichtreflexe unter seinen Augenlidern zu Figuren werden, die als Freunde kommen und Geschichten erzählen. „Bis heute kommt es mir vor, als habe damals mein Kopf begonnen, mir eine Geschichte zu erzählen, die Geschichte meiner Welt oder der Welt schlechthin.“

Szene für Szene, Erinnerung für Erinnerung baut sich Maier diese seine Welt wieder auf. Zuerst „Drinnen“, wie der erste Teil des Buches heißt, dann „Draußen“, als der Besuch der Schule anders als der des Kindergartens nicht mehr verweigert werden kann. Einiges davon steht ein wenig anbindungslos im Roman herum. Zum Beispiel die Amerikaner, die auf einmal im Wohnzimmer der Familie sitzen – was haben die Mutter als Chefin einer Steinmetzfirma und der Vater als Brauerei-Geschäftsführer mit der US-Army zu tun?, fragt man sich. Oder die Migräne des Vaters, die im zweiten Teil einigen Erzählraum einnimmt, und die Frage aufwirft: Was ist eigentlich mit der Mutter? Sie gewinnt kaum Konturen. Man ahnt, dass Maier hier die Fäden für weitere Teile seiner Familiensaga auslegt. Auffällig jedenfalls, wie schonungslos er mit dem Kind, das er war, umgeht, wie offen er von den Schrecken berichtet, wie er immer wieder anklingen lässt, dass seine „Krankheit“, sein vermeintliches Anderssein bis in die Gegenwart reichen. In der ersten seiner vor fünf Jahren gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen, die mit dem Titel „Die Verweigerung“ eine Art Vorarbeit zu diesem Roman darstellte, hat Maier in Bezug auf sein traumatisches Kindergartenerlebnis gesagt: „Für mich begann mein bewusstes Leben mit einer Katastrophe. Das ist ein großes Wort, Sie werden es gleich relativiert bekommen, und dennoch habe ich mich von dieser Katastrophe bis heute nicht erholt.“

Da schwingt natürlich Koketterie mit. Gute Güte, mag es einem spontan entfahren, der soll sich nicht so haben! Doch Andreas Maier gelingt es meisterhaft, seine Empfindsamkeiten, seine Kindheitsnöte, seine Probleme mit der Welt, so wie er sie vorgefunden hat, wie sie ihm erzählt worden ist, wie er sich vielleicht auch ein wenig fiktionalisiert, produktiv umzuwandeln, sie zu Literatur werden zu lassen. Zum Beispiel, wenn er von seinen imaginierten Nachtfiguren berichtet. Oder wenn er beim morgendlichen Aufwachen der Natur oder der Dingwelt gewahr wird: dem Fluss, der immer da ist, dessen Plätschern, oder der Bettdecke, „die mich freundlich einhüllte und auf meiner Seite der Welt war“. Oder wenn dieses Aufwachen, die Zeit, bevor er runter an den Frühstückstisch und damit unter Menschen muss, den großen, schönen Rahmen für die nicht so schönen Bilder aus der Schulzeit bildet.

Von einer nostalgischen „Kindheitsbeschwörung“ kann dabei keine Rede sein, von einem verlorenen Paradies, das Andreas Maier herbeizuerinnern sucht. Dieses Paradies war für ihn höchstens die Zeit, in die seine Erinnerung tatsächlich nicht zurückreicht, die kein Wollen, kein Müssen, keine Zwänge und auch nur wenige Menschen kannte, die Zeit, ihn seine Urgroßmutter mit dem Kinderwagen durch die Welt, vor allem den Bad Nauheimer Stadtpark kutschierte. „Es gibt kein besseres Früher“, hat Maier 2010 in seiner Dankesrede zum Wilhelm-Raabe-Preis gesagt, „aber es kann am Früher gezeigt werden, was wir sind.“ Zumindest in der Literatur, davon ist der Erinnerungskünstler Maier überzeugt, lassen sich selbst verloren gegangene Lebensgeräusche wiederfinden. Die Usa fließt hier immer weiter.

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