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Markus Bundi erzählt in einer Kurzgeschichte von einem erfrorenen Kranfahrer.

© Ottmar Winter

Erzählsammlung von Markus Bundi: Der Kranfahrer, der im Himmel erfror

Was ist Moral? Wer sind die Helden? Wann fallen sie? Markus Bundi beschreibt in „Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte“ Momente, die zu großen Fragen führen. 

Manchmal braucht’s keine großen Worte: „Wettbewerb“, eine der schönsten Erzählungen in diesem Buch, geht über ganze elf Zeilen. Ein kleiner Junge kommt vor, ein Luftballon und ein Erwachsener, der Gutes tun will. Trotz dieser Kürze ist es eine Geschichte, nicht eine Momentaufnahme. Sie zeugt von einer Lüge, aber von einer süßen – die in letzter Konsequenz doch Betrug darstellt.

Gleichzeitig ist sie von einer gewissen Beiläufigkeit. Sie berichtet aus einer Realität, der man sich eigenartig verbunden fühlt und die auch das Gros vieler längerer Geschichten dieses Bandes des Schweizer Autors Markus Bundi prägt: „Zeitweiliges Aufscheinen“ heißt die letzte Erzählung. 

Ihr Ausgangspunkt: der ausdauernde Kampf zwischen Linkshänder und Füllfederhalter in der Grundschule. Das kennt nun wirklich jeder der Betroffenen. Und in „Der Aussetzer“ erzählt Bundi von einer Jungs-Clique, die Mitte der achtziger Jahre eine Art Führungsrolle in ihrer Region innehat.

Ein Scheinwerfer, der auf eine bestimmte Situation leuchtet. Der nicht unbedingt Entwicklungen aufzeigt, eher Momente, die zu Fragen führen. Was ist Moral? Wer sind die Helden? Wann fallen sie? Wie sieht es an den Rändern unserer Gesellschaft aus, welche Gruppen wirken da, und welchen Fliehkräften sind die ausgesetzt? 

Medienmechanismen der Gegenwart

Der Schweizer Autor kann so etwas. Zwar überraschte er zuletzt mit dem recht klassischen Krimi „Alte Bande“, seine Wurzeln liegen aber in der Verknappung. 

So verlässt sich das Bändchen mit dem schönen Titel „Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte“ meistens auf eine Kurzform, die sich aber immer wieder alle Freiheiten nimmt, sich selbst infrage stellt, den Leser eher seinen Ahnungen aussetzt als konkreten Handlungen.

Bundis Sprache ist eine souveräne, ohne Manierismen, ohne übermäßige Beschreibungen. Er lässt seine Charaktere eher karg im Raum stehen, um dann unvermittelt, bisweilen mit diebischer Freude, Pointen zu setzen. 

Eine Ausnahme stellt die Titelgeschichte dar: Hier geht Bundi genau auf Medienmechanismen der Gegenwart ein. Er erzählt von einem Anschlag, dessen Folgen in einem argen Missverhältnis zu dem stehen, was anfangs kolportiert wurde, von fast lustvollen Versuchen, eine sehr persönlich motivierte Gewalttat hochzujazzen und von so einer schon bald platzenden Empörungsblase. 

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Eine Protokollhaftigkeit, aber auch eine gewisse Wehmut schwebt über den Zeilen, die gut zu alldem passen, was nach solchen Vorfällen ohne große Rücksicht auf Wahrheitskerne in den Kommentarspalten der Sozialen Medien geraunt wird.

Am besten ist Bundi in den Momenten, in denen er solche Realitäten eher umtanzt, in denen er das Wahre und das Mögliche vereint. Da erzählt er von einem Kranfahrer, erfroren hoch oben in seiner Kabine. Jetzt überlegt man, wie man ihn, den Eisklotz gewordenen Menschen mit seinen 103 Kilo Lebendgewicht, da herausbekommen könnte. 

Das wirkt komisch; aber genau in dem Moment, in dem man den Zeigefinger heben, eine vermutete Pietätlosigkeit tadeln möchte, kratzt Bundi die Kurve und entlarvt die Situation als Story in der Story.

An anderer Stelle klemmt er zwischen seinen Scheinwerfer und die Welt Milchglasscheiben, die Platz für Versuchsanordnungen lassen. So in „Wir sind die Wandler“. Schauplatz ist ein Einkaufszentrum, eher dessen Peripherie. Bundi skizziert eine Gruppe Menschen, deren Funktion unklar ist. 

Engel auf dem Supermarkt-Parkplatz

Handelt es sich um einen Geisterbund? Um Engel? Oder Assistenten? Auf jeden Fall sorgen sie dafür, dass niemand sein Kind auf dem Parkplatz vergisst, kein Streit eskaliert, kein Eis auf die Bekleidung tropft, kein Ladendieb erwischt wird, und das alles, ohne dass es irgendeiner der Kunden bemerkt.

„Wir tauchen ein in die Masse, nie besinnungslos, doch ohne Namen“, lässt Bundi sie scheinbar vielstimmig erzählen. Und einen Satz später: „Wir setzen uns zusammen aus den Angelandeten, den Ausgeworfenen, den für überzählig Erklärten.“ Eine reizvolle Vorstellung, die übrigens bei einem aufmerksamen Gang durch eine beliebige Shopping-Mall durchaus wahrscheinlich werden könnte.

Nur einmal, als sich gegen Ende des unterhaltsamen Bandes die Reisereportage „Rechts und links vom Jordan“ zwischen die Geschichten schmuggelt, wird der Lauf kurz gestört. Doch der lakonische Sound und die Erzählperspektive scheinen auch hier nahe dran zu sein am rein fiktionalen Charakter der restlichen Geschichten. 
[Markus Bundi: Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte. Septime Verlag, Zürich 2020. 138 Seiten, 18 €]

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