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Geburtstag: Erwarte das Unerwartete

Zum 80. Geburtstag des Zeichners Tomi Ungerer, dem großen Kinderbuchautor und Schöpfer elegant abgründiger Bildergeschichten über Sexmaniacs, Lustmaschinen und Dominas

In früheren Zeiten hätten sie ihn wohl verbrannt. Als Ketzer, den ungläubigen Tomi. Als erotischen Hexer. Oder auch als Kindesverführer. Tomi Ungerer hat nämlich einige der schönsten Bücher für kleine junge Menschen geschrieben, gezeichnet, herausgegeben: Verführungen ins Reich der Fantasien, oft tierisch gut, ein bisschen melancholisch und doch saukomisch. Mit der Geschichte seiner Schweinchenfamilie Mellops begann 1957 in New York Tomi Ungerers Weltkarriere.

Ein Jahr zuvor war der gebürtige Elsässer mit 25 in New York gelandet. Mittellos und fast verhungert hatte er nach Drecksjobs und Klinkenputzen endlich Glück, als der Verlag Harper & Row seine Schweinchengeschichte zum ersten seiner vielen Erfolgsbücher machte. Auf Deutsch sind sie später in Zürich bei Diogenes erschienen. Für Diogenes und alle ewigen Kinder hat Ungerer zum Beispiel sein „Großes Liederbuch“ herausgegeben und illustriert, diese Sammlung deutscher Volkslieder, die selbst in den Zeiten des angelsächischen Popkultur zum Millionen-Seller geworden ist.

Der große Kinderbuchautor T. U., der die Schlange Crictor oder den Teddybären Otto erfunden hat, ist freilich ebenso berühmt für seine amüsant berüchtigten, elegant abgründigen Bildergeschichten über Sexmaniacs, Lustmaschinen, Dominas („Fornicon“). Wie das zusammengeht? „Es hängt zusammen“, sagt er: „Würden die Menschen nicht bumsen, gäbe es keine Kinder. Ich zeichne das Bumsen und die Kinder.“ Er bekannte einst im Tagesspiegel-Gespräch, dass er in New York für gewisse Stunden eine (freiwillige) „Sklavin“ gehabt hatte, er hauste zwei Jahre an der Hamburger Reeperbahn im Hurenmilieu, später wurde er auch Farmer in Irland, wo er heute noch lebt, wenn er sich nicht um seine Stiftung und ein ihm vom französischen Staat als erstem lebenden Künstler gewidmetes eigenes Museum in Straßburg kümmert. Oder in Amerika Projekte hat, wo er einst mit Filmregisseur Stanley Kubrick zusammengearbeitet, mit dem Schriftsteller Philip Roth im gemeinsamen Ferienhaus auf Long Island Orgien gefeiert, den Spruch „Expect the Unexpected“, Erwarte das Unerwartete, für eine Werbekampagne erfunden hatte – und wo Ungerer lange als politisch und sexuell inkorrekt verfemt war.

Doch selbst dort ist er jetzt wieder ein lebender Klassiker. Ein Überlebender. Denn der bis heute schöne Künstler mit der weißen Mähne hat inzwischen Schlaganfällen, einer Teilerblindung und dem Krebs getrotzt. Mit vitalem Witz. „Tumor braucht Humor“, ist eine seiner Devisen. Und: „Kraft durch Freude“. Ungerer, der schon als Kind im Krieg Erfahrungen mit der Gestapo machte, er wollte sich „einen so schönen Spruch nicht vermiesen lassen, nur weil der Doktor Goebbels den auch benützt hat“. Die schönste Sammlung seiner eigenen Sprüche heißt übrigens „Die Hölle ist das Paradies des Teufels“, darin lesen wir: „Manchmal ist ein Kurzschluss der beste Abschied.“ Jetzt aber, an seinem heutigen 80. Geburtstag, zu dem ihm Diogenes den Hommage-Band „Expect the Unexpected“ widmet, ist noch lange nicht Schluss. Das wünschen ihm alle seine Liebhaber und Liebhaberinnen. Peter von Becker

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