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In Zeichnungen wie „Appassionata II“ (Strichätzung auf Zink, aquarelliert, 1998) verarbeitete Carol Rama ihre persönlichen Ängste.

© Alexandra Wetzel/ Archivio Carol Rama, Courtesy Galerie Isabella, Bortolozzi, Berlin

Ausstellung von Carol Rama: Erotische Träume mit Blutegeln

In aller Unschuld: Das Gutshaus Steglitz zeigt das zarte wie verstörende Spätwerk der italienischen Künstlerin Carol Rama.

Über das tabakbraune Transparentpapier mit technischen Zeichnungen erstrecken sich flammende Zungen. Über ihnen Augen der Kontrolle. Die „bösen Zungen“, die Schlangen, der Schnabel, die Blutegel – das sind wiederkehrende Motive in der obsessiven Kunst von Carol Rama, Symbole für Bedrohung und Begehren. Zeit ihres Lebens hat die 1918 geborene Carol Rama versucht, sich mit Hilfe der Kunst von ihren familiären Traumata zu befreien.

2003 gewann sie für ihr Lebenswerk bei der Biennale von Venedig den Goldenen Löwen. Die privaten Räume des Gutshauses Steglitz mit ihren in warmen Körpertönen verputzten Wänden bieten einen schützenden Rahmen für die fragilen Arbeiten. Das Publikum kann hier dicht heran treten an die intimen Fantasien und Kindheitsschrecken, die mit dem Tabubruch spielen.

Brigitte Hausmann, die Leiterin des Ausstellungsorts, konzentriert sich auf die feinen Blätter des Spätwerks der 2015 verstorbenen Künstlerin. Im Alter kehrte Carol Rama in der Grafik zu den Anfängen ihrer Kunst zurück. Weil sie auch nach dem Druck noch einmal mit Aquarellfarben, Nagellack oder Ölkreide in ihre Radierungen hineingearbeitet hat, sind hier Unikate zu sehen.

Schon bei ihrer ersten Ausstellung 1945 in der Galerie Faber in ihrer Heimatstadt Turin provozierte Carol Rama mit ihrer Perspektive auf weibliche Sexualität. Die Schau wurde verboten, die Aquarelle von der Polizei abgehängt. Die junge Frau verarbeitete darin die verstörenden Szenen, die sie als Zwölfjährige beim Besuch ihrer kranken Mutter in einer Nervenheilanstalt beobachtet hatte.

Carol Rama wuchs als Tochter in gut bürgerlichem Hause auf, bis das Unternehmen ihres Vaters in Konkurs ging. Amabile Rama nahm sich 1942 das Leben. In ihrer Kunst mischen sich die Eindrücke von der Jugend im Krieg und das Aufbegehren gegen die rigiden Moralvorstellungen im katholischen und faschistischen Italien. Ihr Onkel fertigte Prothesen für verwundete Soldaten an. Immer wieder tauchen in ihren Bildern einzelne Körperteile auf oder Torsi ohne Arme und Beine.

Blumen und amputierte Gliedmaßen

Mit über 70 griff sie diese Motive wieder auf. Zu sehen sind haarfeine Blicke auf das weibliche Geschlecht, durch farbige Flächen als Tabu gekennzeichnet. „Cadeau“, Geschenk, nennt Carol Rama diese Darstellungen. „Appassionata“ heißt ihre Heldin, die ihr sexuelles Verlangen ausdrückt. Ein aquarellierter Druck zeigt diese „Leidenschaftliche“ nackt mit amputierten Gliedmaßen im Gitterbett, einen Kranz Blumen im Haar. Eine Erinnerung an ihre Mutter Marta. Andere „Leidenschaftliche“ züngeln oder schnäbeln lustvoll mit Pfauen, flirten mit einer Riesenkröte oder stehen in Flammen angesichts eines geflecktes Frosches.

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Weil die Frauen und Fabelwesen so zart ausgeführt und ihre Konturen auf edlem Papier gedruckt sind, wirken die Blätter von großer Unschuld, Reminiszenzen an eine zerbrochenen Kindheit. Gleichzeitig beziehen sie Stellung für die Entfesselung der gepeinigten Seelen.

(Bis 1. Mai 2022, Gutshaus Steglitz Schlossstraße 48, täglich 10 – 18 Uhr. Eintritt frei)

Mitunter macht sich auch der schräge Humor der Künstlerin bemerkbar. Zu ihren Idolen gehörte der traurige Komiker Buster Keaton, mit dem sie sich in einem erotischen Traum verbindet; an ihrem Hals saugen Blutegel. Ein weiterer Rückblick auf die Kindheit, als sie mit ihrem Bruder und ihrer Schwester beim Spielen am Brunnen Blutegel an ihren Beinen vollsaugen ließen, um die heilenden Tiere für Geld für Kinokarten zu verkaufen.

Immer wieder irritierend greift Carol Rama auf archaische Erzählungen zurück, auf Fabelwesen, die im kollektiven Unbewusstsein einen Schauder hervorrufen – und sprengt so überkommene Bedeutungen. Die Spannung entsteht aus der Mischung von kindlichem Staunen und der Lust der alten Dame an der Provokation.

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