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Wegweisend. Richard von Weizsäckers Rede, 40 Jahre nach dem Krieg.

© Heinrich Sanden

Erinnerungskultur: Konsequenzen aus der Geschichte

Wie die Erinnerungskultur durch öffentliche Debatten geprägt ist – und das politische Bewusstsein formt.

Erinnerung funktioniert in der pluralistischen Gesellschaft nur im Plural. Ein homogenes, gar politisch verordnetes Geschichtsbild kann nicht existieren – gegen Unterstellungen der Kritiker einer angeblichen „Vergangenheitsbewältigung“, die im Gedenken „Selbsthass“ sehen wollten. Es gibt gemeinsame Erinnerungen, so, wie es gemeinsame Werte gibt. Sie sind nicht selten Folge geschichtspolitischer Anstöße mutiger Redner wie Theodor Heuss – zehn Jahre nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 – oder Richard von Weizsäcker am 40. Jahrestag des Kriegsendes. Gedenkveranstaltungen, aber auch Filme wie „Die Flucht“ oder historische Kontroversen wie der „Historikerstreit“ können Gedenkkulturen verändern. Dies zeigt deutlich: Erinnerungen werden beeinflusst,umgedeutet und verteidigt. Das erfuhren jüngst Björn Höcke und Alexander Gauland in der Zurückweisung abstoßender Umdeutungen. Menschen erinnern sich nicht nur an Ereignisse, sondern begründen im „angemessenen Gedenken“ ihre Vorstellungen von zivilisiertem Zusammenleben. Dies ist der Hintergrund von Bekenntnissen wie „Nie wieder!“. Erinnerungen haben Geschichte, beeinflussen Überlieferungen und Traditionen. Formen des Erinnerns können aber auch in Ritualisierungen münden. Dann werden Denkzeichen zu Kranzabwurfstellen, werden Ansprachen als Sonntagsreden empfunden, die am Montag nicht mehr gelten.

Erinnerung und Gedenken bleiben geprägt durch geschichtspolitische Auseinandersetzungen, die Erinnerungskulturen formen. Sie wurden nach 1945 beeinflusst von Debatten, die Politiker, Journalisten, Pädagogen und Historiker auf sich nahmen. Auseinandersetzungen relativierten und pluralisierten Erinnerungsbezüge, sie beeinflussten die „humane Orientierung“ und bereiteten das Fundament für eine Europäisierung des Gedenkens, das Manifest wurde im Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz.

Grundlage der Erinnerung ist ein bürgerschaftliches Engagement

Antisemitismus, Rassismus und die Diffamierung von Minderheiten gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt und bleiben zentraler Bezugspunkt aller Versuche, Relativierung, Verdrängung und Vergessen der NS-Zeit entgegenzutreten. Grundlage der Erinnerung sind weniger Gedenkstätten als vielmehr ein bürgerschaftliches Engagement, dem wir Orte wie die Topographie des Terrors, die „Wannseevilla“, das Mahnmal zur Erinnerung an die Ermordung der Juden oder die Gedenkstätte Deutscher Widerstand verdanken. Politik und Verwaltung reagierten auf gesellschaftliche Anstöße, förderten Initiativen und stabilisierten sie, sodass viele Erinnerungsorte heute als außerschulische Lernorte geschätzt werden. Wichtige Akzente setzte auch die „Woche der Brüderlichkeit“. So wurde seit den fünfziger Jahren eine deutsche Gedenkkultur geschaffen, die kritisch das politische Selbstverständnis formte, weil sie die Erosion von Grundwerten durch Hinweise auf die NS-Zeit bewusst machte. Seitdem wissen wir, wie problemlos aus Mitmenschen Gegenmenschen werden können.

Publizistische Debatten markierten Weichenstellungen, wie die Auseinandersetzung über die „Wehrmachtsausstellung“ zeigte. Seitdem spricht kaum jemand von einer „sauberen Wehrmacht“, die in einem Rassen- und Weltanschauungskrieg zugleich immer auch den Völkermord an Juden und an Sinti und Roma ermöglichte. Die Erinnerungskulturen bleiben das Ergebnis öffentlicher Kontroversen. Zugleich wurde deutlich, dass „kollektive“ Deutungen der Vergangenheit nicht von individuellen Erfahrungen zu trennen sind. Erinnerungskulturen brauchen die Übertragung ganz persönlicher Erinnerung in „kollektive“ Erinnerungen, in ein Geschichtsbild, das gesellschaftlich akzeptiert bleibt trotz aller Umbrüche.

Es geht nicht um „Schuldkult“

Derzeit brechen diese in Jahrzehnten gefestigten Vorstellungen auf, werden Maßstäbe zivilisierten Zusammenlebens brüchig. Was dem einen nur ein „Vogelschiss“ in der tausendjährigen Geschichte, ist dem anderen Ausdruck eines Epochen- und Zivilisationsbruches. Was dem einen ein Mahnmal, gilt dem anderen als Schandmal verlorenen nationalen Stolzes.

Historiker machen es sich zu leicht, wenn sie Erinnerungskultur zum Oberbegriff aller denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse machen. Die Erwartung, durch Rückgriffe auf eine „stolze“ Vergangenheit eine historisch geprägte Identität zu formen, hat sich zumindest in Deutschland nicht erfüllt. Prägend blieb die Vorstellung einer Schuld- und Verantwortungsgemeinschaft. Diese Entwicklung wurde oftmals als deutscher „Sonderweg“ bezeichnet und galt nach dem Zusammenbruch diktatorisch geprägter Systeme als nachahmenswert.

Die Nachlebenden sind für Erinnerungen und Geschichtsbilder verantwortlich. Es geht nicht um „Schuldkult“, sondern um Konsequenzen, die aus der Geschichte gezogen werden. In der Zukunft wird sich zeigen, wie fest das Fundament von Wertvorstellungen ist, die historische Erfahrungen mit politischem Bewusstsein verbinden.

Der Autor ist wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

Peter Steinbach

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