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Über die Grenze. Szene aus Jan Fabres 24-Stunden-Performance „Mount Olympus“ 2015 in Berlin.

©  Imago/Martin Müller

Jan Fabre: Erfahrungen im Exzess

Auch gegen den Choreografen Jan Fabre werden Missbrauchsvorwürfe erhoben. Ein Ex-Assistent beschreibt das System des Künstlers, die Faszination und das Übergriffige.

Der belgische Regisseur, Choreograf, Autor und Bildende Künstler Jan Fabre hat das Theater mitrevolutioniert. Bereits in den 80er Jahren öffnete er, neben Robert Wilson, mit den ausdrucksstarken, weltweit tourenden Produktionen „Das Theater wie es zu erwarten und vorhersehbar war“ (1982) und „Die Macht der theatralischen Torheiten“ (1984) die europäische Bühne für die fragmentarisch-postdramatische Performance-Kunst. Mit so einem Regisseur wollte ich als junger Theaterwissenschaftsstudent in Berlin unbedingt arbeiten. Damals war ich noch stark beeinflusst von Klassikern, konventionellen Erzählweisen und psychologischem Realismus, den es heute qualitätsvoll leider nur noch im Kino gibt.

Nun ist aus Fabres Weltfirma Troubleyn ein Problemfall geworden. In einem offenen, ehrlichen Brief kritisieren 20 ehemalige Tänzerinnen und Tänzer völlig legitim seine extreme Persönlichkeit, Arbeitsweise und die Probenprozesse. Gemeinsame Erfahrungen bestätigen die erschreckenden Details bestimmter Übergriffe und eines dauerhaften Machtmissbrauchs. Die Staatsanwaltschaft ermittelt bereits, dies könnte auf schmerzhafte Weise Fabres Reputation und die Existenz seiner teils extrem treuen, großherzigen und loyalen Mitarbeiter bedrohen. Diese Geschichte hat etwas Exemplarisches. Auf der Homepage von Troubleyn erklärt das Ensemble: „Die öffentliche Debatte hat eine interne Diskussion darüber ausgelöst, welche Grenzen wir zu setzen haben und wie wir Arbeitsbedingungen schaffen, in denen sich jeder sicher und respektiert fühlt.“ Ende vergangener Woche wurden Fabre-Vorstellungen in Frankreich von der Truppe abgesagt. Fabre selbst will Troubleyn-Tourneeauftritte mit „Belgian Rules“ und „Mount Olympus“ (das vor drei Jahren bei den Berliner Festspielen gefeiert wurde) derzeit nicht begleiten.

15 Stunden Fahrt nach Bad Salzuflen - ohne anzuhalten

Die Zeiten ändern sich, seit einem Jahr gibt es die MeToo-Bewegung, und deshalb ist es wichtig und notwendig, an die damalige Zeit und Mentalität zu erinnern. Ich kam 1988 erstmalig mit Jan Fabre zusammen bei einem Workshop für ein Performance-Projekt im Künstlerhaus Bethanien. Er gab mir gleich Spezialaufgaben: Ich sollte in wenigen Tagen acht Riesenblätter auf dem Boden verschiedener Berliner Straßen mit Hunderten von BIC-Kugelschreibern vollkritzeln. Er signierte dann die Blätter, stellte sie aus und verkaufte sie unter seinem Namen. Dazu kam eine 15-stündige Fahrt nach Bad Salzufflen, ohne einmal anzuhalten, kurz vor der Premiere seiner „Prometheus Landschaft“, um Insekten abzuholen, die als Requisiten um fünf Uhr morgens eingesetzt wurden. Bei einem gemeinsamen Ausflug in die Diskothek Dschungel, das Berghain der damaligen Jahre, fragte er mich: „Felix, bist du schwul?“.

Es war das erste Mal, dass ein Fremder und Arbeitgeber mich so etwas vermeintlich Intimes fragte, und ich traute mich zum ersten Mal mit „Ja“ zu antworten. Er verzog das Gesicht abfällig und meinte: „Ich finde Schwule grauenhaft.“ Ich war schockiert und verletzt, aber wenig später ahnte ich, dass es eine Provokation oder ein Test war, wie ehrlich ich reagieren würde. Denn er unterhielt immer viele, gute Beziehungen zu homosexuellen Künstlern und war oft neugierig, in welcher Welt wir wie lebten. Mir wurde klar, dass es bei alledem nicht um Demütigung oder Ausbeutung, sondern um ein Experiment mit den Grenzen der Konventionen. Da ich in der Lage war, souverän und offen damit umzugehen, engagierte er mich für mehrere Jahre als Produktionsdramaturg in Antwerpen.

Dieser Zeit, eine Art Ausbildung, verdanke ich viel. Fabres Leidenschaft und Direktheit, sein Perfektionismus, seine Kreativität, sein Sinn für Ästhetik und kühle Poesie sollten sich dauerhaft prägend auf mich auswirken. Dass er auf Proben herumbrüllte und gelegentlich Mitarbeiter beleidigend angriff, gehörte für mich seither leider immer zur Natur des Theaters. Menschen mit enormer Verantwortung und dauerndem Erwartungsdruck können und dürfen schon mal die Nerven verlieren.

Der Kosmos Jan Fabre ist ungeheuer originell und produktiv. Das Grenzüberschreitende war und ist Teil der Entstehungsprozesse. Immer wieder treibt er seine Schauspieler und Tänzerinnen auf Proben und auf der Bühne in Darstellungsexzesse und eine totale Erschöpfung, was Zuschauer berühren und faszinieren kann. Fabre hatte den Mut, Enormes zu fordern. Er formulierte das Konzept einleuchtend: Mit der Erschöpfung entledigen sich Performer ihrer konventionellen, antrainierten Gestik und verwandeln sich in etwas Authentisches. Hinzu kamen freier, ungehemmter Umgang mit Nacktheit, Sexualität, frivole Anspielungen, verbale Tests auf und hinter der Bühne.

In der Kunst sind Leben und Arbeiten aufs Engste verzahnt

Über die Grenze. Szene aus Jan Fabres 24-Stunden-Performance „Mount Olympus“ 2015 in Berlin.
Über die Grenze. Szene aus Jan Fabres 24-Stunden-Performance „Mount Olympus“ 2015 in Berlin.

©  Imago/Martin Müller

Für einen Künstler oder eine Künstlerin ist es nicht unwichtig, das zu leben, was er oder sie in ihrer Arbeit ausdrücken. Anders als bei einem Job im Finanzamt oder in einer Autowerkstatt sind in der Kulturwelt Leben und Arbeit engstens verzahnt, dabei sind Grenzerfahrungen ebenso unvermeidlich wie Grenzübertritte. Aber schon in den Neunzigern war mir klar, dass es hier eines Tages ein Problem geben könnte.

Fabre unterhielt einige sexuelle Beziehungen mit Mitgliedern des Ensembles, aber weil er damals ein extrem attraktiver und berühmter Mann war, wirkten sexuelle Anspielungen, Flirts, taktische Begehrlichkeiten noch charmant. Nur die Schummeleien und nächtlichen Exzesse, in denen er etwa endlose, surreale Theatertexte produzierte, machten ratlos. Kein Wunder, dass er nur selten für andere Ensembles arbeitete. Dass seine Firma bis heute „Troubleyn“ (flämisch: bleib treu) heißt, ist kein Zufall.

Was für mich früher nur Machtspiele waren, mit denen ich gelassen umgehen wollte, ist heute, im Zeitalter von Sozialmedien, Transparenz, Selbstermächtigung und Enthierarchisierung, zu Machtmissbrauch und zu einem großen und schmerzhaften Thema geworden. Der Kunstprozess wird zunehmend und zu Recht demokratisiert, es geht um faire Bezahlung, humanen Umgang und um Vermeidung von Grenzerfahrungen. Damit könnte das Theater einerseits etwas leidenschaftsloser und langweiliger werden. Andererseits kann es etwas Neues gewinnen. Früher war das Magisch-Enigmatische vieler Produktionen wichtig für das Publikum, heute basiert das Erlebnis mehr auf tagespolitischer Dialogform und Teilnahme.

Angst und Schrecken, Zuneigung und Wärme

Der große japanisch-französische Schauspieler und Regisseur Yoshi Oida, der viel mit Peter Brook gearbeitet hat, sagte mir einmal: „Es gibt zwei Typen von Regisseuren. Die einen treiben ihre Darsteller mit Angst und Schrecken zu Höchstleistungen an, die anderen schaffen es mit Zuneigung und Wärme.“ Fatal ist zum Beispiel, dass die großherzige, lebenskluge Regie-Intendantin Kirsten Harms, die mit großem Führungstalent den Riesenapparat Deutsche Oper zusammen hielt, vor sieben Jahren noch ausscheiden musste, weil man ihr immer wieder Führungsschwäche vorwarf – anstatt ihre humane Durchlässigkeit und ihren zynismusfreien Sanftmut in einer Leitungsfunktion zu honorieren. Ich habe diese Zeit als ihr engster Mitarbeiter erlebt.

Was für mich jetzt nicht mehr nachvollziehbar ist, dass Jan Fabre die Missbrauchsvorwürfe wütend und vehement abstreitet. Das könnte ein Hinweis sein, dass sie ein Volltreffer sind. Und warum reagiert ein Künstler mit Grenzerfahrung auf Vorwürfe so wie alle anderen Kommerzmachos, wie Harvey Weinstein oder Donald Trump? Fabre lebt leider bis heute und dauerhaft in seinem Kunstkosmos aus herrlichen Fake-Mythen und strengen Feudalstrukturen. Für ihn ist verständlicherweise das Ensemble eine Art Kunstfamilie, in der es einen harten Psychovater und ängstlich-folgsame Kinder geben darf. Er scheint die Veränderungen und Verbesserungen der Theaterwelt nicht zu beobachten und sich nicht weiterentwickelt zu haben. Für mich gehörte Kritik immer zur Utopie und Freiheit der Kultur. Aber anstatt mit Kritik produktiv umzugehen, bleibt Fabre hierarchisch, autoritär.

Warum ist ihm nicht klar, dass er als junger, sexy Künstler anziehender wirkte als nun als fast 60-jähriger Mann? Flirten und Anspielungen wirken heute eher bedrohlich als vor 30 Jahren, damals war man gleichaltrig und damit mehr auf einer gemeinsamen Ebene der Erfahrungen. Er denkt, weil er weltberühmt ist und sein Ensemble von seinem Namen profitiert, darf er immer noch alles. Was für ein Trauerspiel.

Felix Schnieder-Henninger war in Berlin u. a. für die Schaubühne und die Deutsche Oper tätig. Er ist als Dramaturg ausgebildet und arbeitet als PR-Berater für Performance-Kunst und Museen.

Felix Schnieder-Henninger

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