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Knusper, knusper, Knäuschen. Der Dezember ist der Monat von Engelbert Humperdinck.

© Monika Rittershaus

Engelbert Humperdinck: Er war mehr als nur der Musiktheater-Märchenonkel

Zum 100. Todestag von Engelbert Humperdinck wirft Matthias Corvin einen neuen Blick auf den Komponisten, der „Hänsel und Gretel“ komponierte.

Er hat während seiner Studienzeit ein Jahr als Stipendiat in Italien verbracht, er durfte, ebenfalls mit einem Stipendium, das Pariser Kulturleben erkunden, er war Dozent für Musiktheorie in Barcelona und ließ sich von einer Reise durch Südspanien und Nordafrika zu seiner „Maurischen Rhapsodie“ inspirieren. Und, ja, er hat „Hänsel und Gretel“ komponiert, eine Märchenoper, die zum internationalen Hit wurde und auch heute um die Weihnachtszeit zuverlässig überall auf den Spielplänen erscheint.

„Hänsel und Gretel“, uraufgeführt 1893 in Weimar und innerhalb von nur einer Saison an 70 weiteren Bühnen nachgespielt, machte Engelbert Humperdinck berühmt – und reich. Als er im Jahr 1900 zum Professor an der Berliner Musikhochschule berufen wurde, bezog er natürlich eine Wohnung in der feinsten Grunewald-Gegend, später ließ er sich in Wannsee eine Villa ganz nach seinem Gusto errichten.

In seiner anlässlich des 100. Humperdinck-Todestags erschienenen Biografie ist es Matthias Corvin wichtig aufzuzeigen, dass dieser nicht nur ein Krähwinkel-Komponist war, der sich in realitätsfernen Märchensphären bewegte, sondern ein durchaus weltgewandter Bürger. Der Erfolg von „Hänsel und Gretel“, erläutert der Musikwissenschaftler, machte Humperdinck vor allem unabhängig in seiner Künstlerexistenz. Weil die Tantiemen fließen, ist er frei in seiner Arbeit, kann sich Experimente leisten.

Zum Beispiel bei seinen „Königskindern“. Das symbolistische, unversöhnlich endende Kunstmärchen der Autorin Elsa Bernstein um einen Prinzen und eine Gänsemagd vertont er 1897 auf außergewöhnliche Weise als Mischung aus Schauspiel und Musiktheater: Indem er das zu seiner Zeit beliebte Melodram, also das Rezitieren von Gedichten zu Musikbegleitung, konsequent weiterentwickelt. Mit einer neuen Notenschrift-Technik fixiert er die Gestaltung der Worte in rhythmischer Hinsicht so genau, dass ein fließender Übergang zwischen Sprechen und Singen möglich wird.

Die „Königskinder“ finden in Komponistenkreisen große Beachtung, kein Geringerer als Arnold Schönberg macht sich das „gebundene Melodram“ später für seine eigenen Bühnenwerke zunutze. Allerdings ist die Aufführung der musiktheatralischen Mischform für die Schauspielerinnen und Schauspieler schwierig und aufwändig, weshalb Humperdinck seine „Königskinder“ 1910 zu einer konventionellen Oper umarbeitet. Deren Uraufführung sichert sich die Met in New York, so berühmt ist Humperdinck mittlerweile.

Komponist und Märchenonkel. Engelbert Humperdinck.
Komponist und Märchenonkel. Engelbert Humperdinck.

© Stadtarchiv Siegburg

Mit zunehmendem Alter allerdings wird Humperdinck konservativer, gibt sich betont nationalistisch und kaisertreu. In Bayreuth wird er von der Familie Wagner liebevoll „Hümpchen“ genannt. Als junger Mann waren die Werke Wagners sein Fixstern, er stand auf der Seite der Avantgarde, während seine Hochschullehrer wenig von den „Neudeutschen“ um Franz Liszt hielten. Humperdinck aber faszinierten deren Wagnisse auf formaler wie harmonischer Ebene, ihre suggestiven Tondichtungen und ins Metaphysische driftenden Musikdramen.

[Matthias Corvin: Märchenerzähler und Visionär. Der Komponist Engelbert Humperdinck. Schott Mainz 2021, 292 S., 22,99 €.]

Der 1854 im Rheinischen geborene und in einem musikliebenden Lehrerhaushalt aufgewachsene Humperdinck lernt Wagner 1880 auf einer Italienreise kennen und wird zu dessen Assistent bei den Vorbereitungen der „Parsifal“-Uraufführung. Die Zeit bei den Bayreuther Festspielen ist prägend, dennoch gelingt es dem jungen Komponisten, nicht zum Wagner-Epigonen zu werden.

Während die meisten seiner Kollegen in Richtung Dekadenz streben, mit immer größeren Orchesterbesetzungen, immer üppigeren Klangfarben und einer geradezu betäubend raffinierten, bis zum Zerreißen gespannten Tonalität, pflegt Engelbert Humperdinck eine romantisch-naive Schlichtheit.

Verquaster Religionskitsch

Schon in den Frühwerken zeigt er sich als fantasievoller Melodienerfinder, seine Instrumentierung ist licht und elegant. Alles Schwül-Erotische liegt ihm fern, seine Liebesszenen sind stets jugendfrei, Blicke in die dunklen Seiten der Seele spart er meistens aus. Was Humperdinck interessiert, ist das Volkstümliche. Die heitere Spieloper des frühen 19. Jahrhunderts nimmt er sich zum Vorbild, in diesem populären Genre will er zum Erben Albert Lortzings werden.

Bezaubernd-schlichte Musik komponiert er für seine „Dornröschen“-Version, überraschend schlicht-bezaubernd sind allerdings auch die Bühnenmusiken zu Shakespeare-Dramen, die er im Auftrag des Theaterinnovators Max Reinhardt schreibt. Mit Reinhardt bringt er 1911 dann auch ein Mega-Spektakel heraus, in der Londoner Olympia Hall, mit 2000 Mitwirkenden und 10 000 Zuschauern. Das Stück ist als Pantomime angelegt und damit international vermarktbar, die Ausstattung ist bombastisch, Humperdincks aus Tänzen, A-cappella-Chören sowie bekannten Kirchen- und Weihnachtsliedern zusammengesetzter Soundtrack funktioniert als eine Art Filmmusik.

Aus heutiger Sicht ist „Das Mirakel“ nichts als verquaster Religionskitsch, eine krude Story, in der die Muttergottes höchstselbst die klösterlichen Aufgaben einer Nonne übernimmt, die mit ihrem Liebhaber durchbrennt. Das zeitgenössische Publikum aber erliegt massenhaft der Überwältigungsästhetik.

Ein legitimer Erbe von Wagner

Als Humperdinck 1921 stirbt, ist er ein Gestriger – und wird doch bis zuletzt auch von jenen Kollegen geschätzt, die ihm gedanklich längst weit voraus sind. Weil sich der Altmeister nicht nur durch sein sanftes Wesen und seine ruhige Heiterkeit auszeichnet, sondern mit väterlichem Interesse die aktuellen Entwicklungen der Künste beobachtet, ohne sich von seinem eigenen, einmal eingeschlagenen Weg abbringen zu lassen.

Thomas Mann erklärt Humperdinck darum neben Richard Strauss zum legitimen Erben Wagners: Während Strauss den „europäischen Intellektualismus“ des Bayreuther Meisters fortgeführt habe, lebt der „deutsch-bürgerliche Teil“ weiter „in dem Käppchen-Meistertum und Treuefleiß des liebenswerten Engelbert Humperdinck“.

Der Komponist selbst hat seine „Hänsel und Gretel“-Oper übrigens als ein Werk „für Erwachsene mit Kinderherzen“ betrachtet – und tatsächlich wird bis heute in den Adventszeit-Aufführungen so manchem Erziehungsberechtigten im dunklen Zuschauerraum wärmer ums Herz als dem mitgeschleppten Nachwuchs.

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