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„Carte Noire Nommée Désir“ von Rébecca Chaillon auf dem Festival d’Avignon

© Christoph Raynaud de Lage

Eine Bilanz des Festivals in Avignons: Die Zerbrechlichkeit des Menschen

Unter der neuen Leitung des Portugiesen Tiago Rodrigues standen dieses Jahr in Avignon Themen rund um Landschaft und Klima sowie Formen der Diskriminierung im Mittelpunkt.

Von Eberhard Spreng

Wer sein Festivalprogramm im Dreieck Klassismus, Sexismus, Rassimus verortet und zudem das Thema Landschaft und Klima im Spielplan hat, dem bescheinigt man gemeinhin ein hohes Maß an zeitgenössischer Awareness. Der portugiesische Regisseur Tiago Rodrigues, der erste nicht-französische Festivalchef in der Geschichte von Europas größter Theaterschau, hat in diesem zeitpolitischen Sinne sein erstes Festival d’Avignon vorbildlich gemeistert.

Die Klassenfrage vom Anfang des 77. Festivals wurde allerdings in Julie Deliquets Eröffnungsinszenierung „Welfare“ eher schwach gestellt. Dagegen ist Gewalt gegen Frauen in anderen Stücken immer wieder das Thema: Carolina Bianchi setzte sich während ihrer Performance „A Noiva e o Boa Noite Cinderela“ mit dem eigenen Körper der Wirkung von K.O.-Tropfen aus. Sie fiel in den Schlaf, während ihre Truppe rund um ihren wie leblos daliegenden Körper ein Panorama von Schreckensbildern entfaltete.

Provozierende Performance

Marguerite Duplessis war wohl die erste Frau in den damals Nouvelle France genannten Gebieten in Nordamerika, die gegen ihren Sklavenstatus 1740 mit einer Petition gerichtlich vorging. Sie inspirierte die indigene Künstlerin Émille Monnet zu einer Performance, die einen Blick auf den aktuellen Debattenstand zum Thema der indigenen Bevölkerung Kanada erlaubt.

In einer provozierend frechen Vorstellung rechnete wiederum Rébecca Chaillon mit dem von Rassismus und Kolonialismus geprägten Bild der schwarzen Frau ab. Die französische Autorin, Regisseurin und Performerin ist karibischer Abstammung. Ihr „Carte Noire Nommée Désir“ wurde in Avignon zum Gründungsstück für queeren Afrofeminismus, es war das Highlight am Festivalende. Während der Aufführungen und auch danach kam es zu verbalen und physischen Angriffen auf die schwarzen Performerinnen. Wird angegriffen, wer die Opferrolle verlässt und die rassistische Übergriffigkeit offensiv ins Publikum zurückspiegelt? Wer schwarz ist, Frau und angriffslustig?

Milo Raus indigene „Antigone“

Auch Milo Rau war mit seiner neuen Arbeit „Antigone in the Amazon“ in Avignon vertreten. Der Schweizer realisierte diese unter anderem mit der indigenen Aktivistin und Schauspielerin Kai Sarah im Amazonasgebiet.

Julien Gosselins fünfstündiges Triptychon „Extinction“ wurde ebenfalls gezeigt, es kommt zum Saisonauftakt auch an die Volksbühne. Der junge Regieberserker schuf in einer Co-Produktion mit der Volksbühne eine in Teilen berauschende Fortsetzung seiner Berliner „Sturm und Drang- Geschichte der deutschen Literatur I“. Vor allem seine Collage aus Schnitzler-Stücken und Erzählungen, dem „Extinction“-Mittelteil, ist ein großer Theatermoment.

Zwei Gastspiele der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker bildeten das Herz eines ausgeprägten Tanzschwerpunkts. Keersmaekers neue, auch im kommenden Berliner Tanz im August zu sehende Arbeit „Exit Above – after the tempest“ ist ein ästhetischer Neuanfang.

Ein weiteres Gastspiel mit dem Modethema Kunst und Landschaft enttäuschte dagegen. Während in Rhodos und anderswo die Natur brennt, trödelte man im Großraum Avignon durch einen Pinienhain, lauschte im Drahtloskopfhörer dem Geplauder von Kindern, Förstern, Meteorologen und Psychologen, setzte sich VR-Brillen auf, um sich die Landschaft mal ohne Menschen anzuschauen, und ahmte in einem ironisch-esoterischen Gruppenspielchen Bäume nach. „Paysage Partagés“, das unter dem Titel „Shared landscapes“ im August zu den Berliner Festspielen kommt, versammelt sieben vergebliche Versuche, einen neuen Blick auf die „Umwelt“ zu stiften.

Adaption eines Giono-Romans

Eine weitere, fast siebenstündige Wanderung galt der Bearbeitung eines Heimatromans des provenzalischen Romanciers Jean Giono. In dessen 1935 erschienenen Roman „Que ma joie demeure“ bricht eine unheilbare Krankheit über die kleine Gemeinschaft von Bauern herein. Eine Erlöserfigur kommt ins Spiel, stellt herrschende ökonomische Regeln infrage und lädt zum großen Weltentzücken ein.

Zehn Szenen, auf Wiesen, in Olivenhainen und Pinienwäldern. Auch in dieser Performance scheint die Wirklichkeit des Klimawandels nicht zu existieren.

Was bleibt in Erinnerung? Ein Meteor vom Anfang der Theaterschau: Philippe Quesnes „Le Jardin des Délices“ (Garten der Lüste). Darin kommen ein paar Menschen, wie gestrandet nach der Apokalypse, im kargen Exil eines Steinbruchs an. Ihr Sprechen ist eine einzige Behutsamkeit, Rücksicht, Geduld. Dieser Ton war auf einmal, in seiner ganzen Zeitentrücktheit, das hochpolitische Statement eines Festivals, das sich die Zerbrechlichkeit des Menschen als Motiv erkoren hatte.

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