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Volksbühne: Ein Untergang

Die Berliner Volksbühne beginnt ihre Saison mit "Nord". Das Stück nach Louis-Ferdinand Céline spielt im Deutschland der letzten Nazi-Monate.

Neuerdings muss man auch an der Volksbühne das Kleingedruckte lesen. „Voyage au bout de la merde . . .“ läuft da über das elektronische Schriftband, und wer sich sonst nicht so mit dem französischen Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline auskennt, der Titel seines berühmtesten Romans hat Sprichwortgewalt: „Reise ans Ende der Nacht“ (Voyage au bout de la nuit). Auf das Haus Castorf, das die Spielzeit mit „Nord“ nach Céline eröffnet hat, trifft wohl leider beides zu. Die Reise geht, schon seit der letzten Spielzeit, als Hauptakteure wie Martin Wuttke und Herbert Fritsch verschwanden und Castorf den „Neuanfang“ verkündete, in Richtung nuit/merde. Scheißspiel.

„Norden“ gehört zu den weniger bekannten Werken des großen Krakeelers (1894 – 1961). Gottfried Benn, der wie Céline Arzt und ebenso anfällig für faschistische Ideen war, nannte ihn den „Kotzer“. „Norden“ spielt, wenn man das so sagen kann, im Deutschland der letzten Nazi-Monate: Verwüstung und Verrohung, Bombenangriffe, Flüchtlingsschicksale und mittendrin eine bizarre Gruppe französischer Bohemiens, Céline und seine Entourage. Es ist die Außenansicht der Tragödie, die man hierzulande inzwischen mit der klaustrophobischen Fantasie vom „Untergang“ assoziiert, Eichingers Chef-imBunker-Kino.

Eingemauert wirkt auch Frank Castorfs Theater. „Nord“ – frei nach Céline – hatte im Juni bei den Wiener Festwochen Premiere (Tsp. vom 9. 6.), gastierte auf den Festivals in Avignon und Athen und stürzt den Betrachter auch beim zweiten Mal in tiefe Ratlosigkeit, ja Verzweiflung. Es wird beim besten Willen nicht erkennbar, was Castorf erzählen will. Was ihn umtreibt, wozu seine Leute – Bernhard Schütz, Milan Peschel, Lars Rudolph, Matthias Schweighöfer, Marc Hosemann, Silvia Rieger, Irinia Kastrinidis, und, für Annekathrin Bürger eingesprungen, Sophie Rois – sich die Seele aus dem Leib kreischen. Nichts von Célines SchlachthausInferno, seinem provozierenden Willen zum Stil, seiner totalen Finsternis. Drei Stunden Exerzitien in Hysterie und Verletzungsvermeidung, wie sie da über Bücherberge, Styroporplatten und Möbel stolpern, wie sie den Eisenbahnwaggon (Bühne: Bert Neumann) über die Müllhalde schieben, rein physisch bewundernswert. Eine Nazi-Travestie? Das Paradieren im Kreis herum hat etwas von hausgemachter Agonie. Albernes Maschinenpistolengeknatter wie bei „Die Hard 4“, mit dem Unterschied, dass Bruce Willis als Actionheld mit Humor und Würde altert.

Zur Zeit ist viel von Konvertiten die Rede. Wenn das am Luxemburg-Platz so weitergeht, wird die Castorf-Gemeinde auch ihre treuesten Fans verlieren.

Wieder heute und am 29. 9., 3. 10.

Rüdiger Schaper

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