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Symbolort antisemitischer Gewalt. Am 9. Oktober 2019 wurde die Synagoge in Halle Ziel eines Anschlags.

© Stoffels/ imago images/Future Image

Antisemitismus in Deutschland: Edle Gründe, finstere Niedertracht

Der Journalist Ronen Steinke klagt in einer bewegenden Chronik an, wie in Deutschland die antisemitische Gewalt erstarkt.

Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle forderte Innenminister Horst Seehofer „ein unbeschwertes jüdisches Leben in Deutschland“. Dass nicht 51 Juden zu Tode kamen, sondern zwei zufällige Opfer in der Gegend, ist nur einer dicken Eichentür zu verdanken, bezahlt aus amerikanischen Spenden.

Der Staat hatte kein Geld dafür. Die bittere Ironie: Der Todesschütze schrieb in seinem Manifest auf Englisch: „The BRD spends huge amounts of tax money on jew safety“ – der Staat gebe massenhaft Steuergelder für die Sicherheit der Juden aus. Dabei müssen für einen großen Teil der Kosten die Gemeinden selber aufkommen.

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Die Bedrohung herrscht nicht erst seit Halle. Es ist das Verdienst von Ronen Steinke, der innenpolitischer Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Berlin ist, in einer „Anklage“ eine Chronik antisemitischer Gewalt seit 1945 zu offerieren. Schon 1949 konnte die US-Militärpolizei gerade noch verhindern, dass in München Polizisten etwa tausend Juden zusammenschossen, die gegen den neuen Antisemitismus demonstrierten. Der erste Mord an einem Juden geschah 1980 in Erlangen – an dem Verleger Shlomo Lewin.

Verdacht in die falsche Richtung

Zusammen mit ihm wurde auch seine christliche Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen – die Tat wird rechten Ultras mit Verbindungen zur Wehrsportgruppe Hoffmann zugeschrieben. Doch die Polizei suchte im jüdischen Umfeld, bis sich der Todesschütze in ein Palästinenserlager abgesetzt hatte. Auch bei den NSU-Morden ermittelte die Polizei unter den trauernden Familien.

Brandsätze und Bomben waren das Markenzeichen des linken Antisemitismus. Der Brand des jüdischen Altersheims in München (sieben Tote) wurde bis heute nicht aufgeklärt. Dieter Kunzelmann, der Chef der Terror-Tupamaros, benutzte gern das Wort „Judensau“. Der Grüne Jürgen Trittin twitterte ihm hinterher: „Ein großer Sponti ist tot. R.I.P.“.

[Ronen Steinke: Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage. Berlin Verlag, Berlin 2020. 252 Seiten, 18 €.]

Deutsche Diplomaten in Nahost zeigten Verständnis für die Mörder der israelischen Olympioniken 1972. Irgendwie war immer die israelische Politik schuld. Es waren zwei Mitglieder der deutschen Revolutionären Zellen, die in Entebbe mithalfen, jüdische Passagiere absonderten. Zum Besten Palästinas. Aus dem Nazispruch „Die Juden sind unser Unglück“ wurde so „Israel ist unser Unglück“. Unter dieser Parole versammeln sich linke, rechte und islamische Judenhasser, die standhaft abstreiten, Antisemiten zu sein.

„Die Geschichte antisemitischer Gewalt ist eine Geschichte edler Begründungen“, notiert Steinke. „Mal sind die Juden für den Kapitalismus, mal für den Kommunismus verantwortlich. Heute werden Juden dafür verantwortlich gemacht, dass es Muslimen in aller Welt schlecht gehe.“ Juden dürfen sich geehrt fühlen. Sie sind die Drahtzieher: bei 9/11, dem Finanzcrash von 2008 oder bei der Islamisierung Europas. „Der Antisemitismus“, schreibt Steinke, enthalte „Elemente des Rassismus“, aber auch „ein Stück verschwörerischer Welterklärung“.

Milde Strafen für Palästinenser

Neu ist, dass Richter Rechtfertigungen bei manchen Tätern als Ausrede akzeptieren. Steinke nennt das „Kulturrabatt“. Wenn Palästinenser auf die Synagoge in Wuppertal Molotowcocktails werfen, wird das mit Bewährungsstrafen geahndet. Wieder und wieder wird Antisemitismus als Israelkritik verbrämt. „Wer eine Moschee attackieren und behaupten würde, er protestiere damit bloß gegen die Politik Erdogans“, der könne, so Steinke, „kaum einen Richter finden, der das als ,Türkenkritik‘ entschuldigt.“

Allein die nackte Chronik der Angriffe in Deutschland seit 1945 füllt 89 Seiten. Die Zahl der Gemeindemitglieder schrumpft, die Anschläge nehmen zu. Dieses Buch macht fassungslos mit seiner akribisch-nüchternen Analyse. Totenruhe gilt in allen Religionen, doch die tausendfache Schändung jüdischer Friedhöfe vereint Ost und West. Steinkes Anklage gegen Staat und Gerichtsbarkeit ist ein erschütterndes Dokument der Gleichgültigkeit – auch wenn die Regierung mit ihrem Antisemitismus-Beauftragtem Felix Klein und mahnenden Reden ihr Bestes tut.

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