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Radikalisierung. Luisa (Mala Emde, vorne) reichen symbolische Proteste gegen das Erstarken der Neuen Rechten nicht mehr.

© Alamode

Drama „Und Morgen die ganze Welt“: „Mein Blick auf die Antifa war noch zu einfach“

Muss die Demokratie mit Gewalt gegen Rechts verteidigt werden? Regisseurin Julia Heinz und ihr Antifa-Drama „Und Morgen die ganze Welt“.

Von Andreas Busche

Luisas Verhältnis zu ihren Eltern ist intakt. Wenn sie am Wochenende zu Besuch in die Heimat fährt, gehen sie gemeinsam auf die Jagd; alter Landadel, so wird sie später einer von Luisas Freunden nennen. Zum Abschied drückt die Mutter ihr eine Tasche mit Kleidungsstücken in die Hand: „Hier, für deine Flüchtlinge.“ Der Vater gibt Luisa noch eine 68er-Lebensweisheit mit auf den Heimweg: „Wer mit 20 nicht links ist, hat kein Herz. Wer mit 30 noch links ist, keinen Verstand.“

Danach kehrt Luisa, gespielt von Mala Emde (zuletzt in der ARD-Serie „Charité“ und in Hans Weingartners „303“ zu sehen) in ihr richtiges Leben zurück: Sie hat sich gerade für ein Zimmer in einem besetzten Kulturzentrum in Mannheim beworben. In gewisser Weise ist „Und Morgen die ganze Welt“ (ab Donnerstag im Kino) von Julia von Heinz ein Coming-of-Age-Film, obwohl Luisa für dieses Genre eigentlich schon zu alt ist. Für die Jura-Studentin geht es jedoch nicht nur um ein neues Lebenskapitel (sozusagen vom Landadel zur Hausbesetzerin), sondern mehr noch um ihr politisches Erwachen.

Die Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin Julia von Heinz beschreibt Luisas Elternhaus am Telefon als ein „subtil arrogantes und elitäres Milieu“. Ihr erschien es aber zu einfach, wieder nur einen Generationenkonflikt zu konstruieren. Das entspräche „einer klassischen Dramaturgie, die wir aus dem Fernsehen gewohnt sind“. Luisas politisches Coming-of-Age ist keine Trotzreaktion auf eine biografische Einschreibung, sondern eine bewusste Entscheidung. Dieser Unterschied ist von Heinz wichtig.

Im September lief der Film in Venedig im Wettbewerb

Um dies zu unterstreichen, benutzt sie den 20. Artikel des Grundgesetzes als eine Klammer um „Und Morgen die ganze Welt“; ihn zitiert der Film zu Beginn und dann noch einmal im Abspann. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Die Formulierung des Gesetzestextes ist neutral, wie unterschiedlich man ihn auslegen kann, spielt ihr Film durch.

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Anfang September lief „Und Morgen die ganze Welt“ im Wettbewerb von Venedig. Es war ein schmales Zeitfenster, in dem die Idee eines physischen Filmfestivals nicht gänzlich abwegig erschien. Inzwischen greift die Pandemie erneut um sich, sodass die Berliner Premiere abgesagt wurde. Julia von Heinz führt ihre Interviews am Telefon, alles zurück auf Frühjahr; aber sie lässt sich von den Umständen nicht unterkriegen. Dass ihr erster internationaler Auftritt in Venedig nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, findet sie schade, aber für sie war es allemal eine Erfahrung.

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„Überwältigend“ nennt sie das Gefühl. „Wir hatten ,Und Morgen die ganze Welt’ ja mit Blick auf ein deutsches Publikum gemacht.“ Dass sie nach zwei Fernsehfilmen (darunter einen „Tatort“), einem „Hanni & Nanni“-Sequel und der Hape-Kerkeling-Verfilmung „Ich bin dann mal weg“ noch einmal auf einem internationalen A-Festival landen würde, hat nicht nur die 1976 geborene Regisseurin, die keine klassische Filmhochschule absolviert hat, überrascht.

Fragen, die man sich in vielen Ländern gerade stellt

Und es öffnete ihr Türen, „von denen ich nicht mal wusste, dass es sie für mich gibt“. Das Interesse ist verständlich. „Und Morgen die ganze Welt“ streift, so spezifisch deutsch sein Milieu – die in den achtziger Jahren entstandene antifaschistische Jugendbewegung – auch sein mag, Fragen, die man sich in vielen Ländern gerade stellt.

Luisa steht vor einer Wahl. Zwischen ihrer besten Freundin Batte (Luisa-Céline Gaffron), die auf Demos gegen eine an die AfD angelehnte rechtsextreme Partei Plakate hochhält. Und Alfa (Noah Saavedra), einem großmäuligen Andreas-Baader-Verschnitt, dem der symbolische Kampf nicht reicht. Das erste Mal beobachtet sie ihn noch verstohlen durch eine geöffnete Tür im Kulturzentrum. Im Nebenraum wird gerade für den Straßenkampf trainiert.

Die angehende Juristin Luisa beginnt, den 20. Artikel des Grundgesetzes mit anderen Augen zu sehen. Was, wenn die demokratische Ordnung der Bundesrepublik bereits unterminiert wird? Wäre es dann nicht die Aufgabe des Souveräns, der Zivilgesellschaft, zu handeln – also vom „Recht zum Widerstand“ Gebrauch zu machen?

Der Reiz eines Radical Chic

„Ich bin Demokratin“, sagt Julia von Heinz, „das Gewaltmonopol muss beim Staat liegen. Problematisch wird es, wenn staatliche Organe zu enge Verbindungen zu rechten Strukturen haben: Daten über politisch unliebsame Menschen landen aus Polizeicomputern bei rechten Gruppen, der Verfassungsschutz spielt eine undurchsichtige Rolle im NSU-Prozess. Diese Vorfälle häufen sich. So entsteht ein Machtvakuum, das die Protagonisten meines Films wieder füllen wollen. Der Film schildert dies aber nicht als Lösung, sondern als Problem.“

Lido-Premiere. Julia von Heinz war für den Goldenen Löwen nominiert.
Lido-Premiere. Julia von Heinz war für den Goldenen Löwen nominiert.

© Sebastian Wells

Ein wenig verfällt ihre Hauptfigur auch dem Reiz eines Radical Chic, verkörpert durch Alfa, der – mit Trainingshose und Sturmhaube – das „Naziklatschen“ sportlich nimmt. Ein Adrenalinkick. Der stille Lenor (Tonio Schneider), der Dritte im Bund und Hacker der Gruppe, gibt dem Trio die Stimme der Vernunft; bei den nächtlichen Ausflügen zu Nazi-Treffen bleibt er lieber im Wagen, als Fluchtfahrer. Ernst wird die Lage, als die drei bei einem abgetauchten Nazi-Kader aus den Achtzigern Sprengstoff entdecken. Sie verstecken den Fund an einem sicheren Ort, doch auch die Polizei scheint etwas zu wissen. Plötzlich haben die Behörden das Jugendzentrum im Visier. Ist ein Mitglied der Nazi-Gruppe ein V-Mann?

Von Heinz war in ihrer Jugend selbst in der Bonner Antifa aktiv, sie will „Und Morgen die ganze Welt“ (eine Zeile aus einem Lied der NS-Arbeiterfront) aber nicht biografisch verstanden wissen. Da sie wohl die einzige deutsche Filmemacherin mit einer solchen linken Vergangenheit sei, wie sie anmerkt, kann sie eben aus eigener Erfahrung erzählen. Als sich ihre Gruppe Anfang der 2000er Jahre auflöste, entstand die Idee zu einem Film.

In Mala Emdes Spiel schimmert eine Ambivalenz

Damals begann sie mit ihrem Ehemann und Ko-Autor John Quester, den sie in der Antifa kennenlernte, an einem Drehbuch zu schreiben. „Mein Blick auf die Antifa war noch zu einfach“, sagt sie heute. „Wer ist gut, wer ist böse? Mit den Jahren wurde mein Blick präziser, ehrlicher, aber auch liebevoller.“ Ihre Perspektive hat sich verändert, aber auch Deutschland ist heute eine andere Gesellschaft als vor 20 Jahren. „Das war ein langer Weg“, sagt von Heinz. „Und dennoch bin ich froh, dass ich ihn nicht früher machen konnte. Ich finde, dass der Film ins Jahr 2020 gehört.“

Dass „Und morgen die ganze Welt“ keinen Flugblatt-Charakter bekommt, verdankt von Heinz besonders ihrer Hauptdarstellerin. Auch wenn Luisas Radikalisierung sehr unvermittelt kommt, schimmert in Mala Emdes Spiel eine Ambivalenz durch. Am Ende nimmt von Heinz in ihren Schilderungen der gruppendynamischen Prozesse – die juristischen Diskussionen über das Grundgesetz an der Uni, das Für und Wider des gewaltbereiten Protests innerhalb der Antifa –, aber immer die Perspektive Luisas ein: ein filmisches Konzept, das die Regisseurin sehr konsequent verfolgt.

Es überrascht nicht, dass sie Andrea Arnold („American Honey“) einen wichtigen Einfluss nennt. Wie die britische Regisseurin gelingt es von Heinz, durch die subjektive Perspektive ihrer Hauptfigur – sie vergleicht es mit einem Ego-Shooter – einen politischen Blick zu etablieren. „Wir lösen jede Szene so auf, dass wir einmal die Szene, über die Schulter gefilmt, mit Luisa erleben – und dann gibt es den Gegenschuss auf sie, auf ihr Gesicht. Und manchmal noch POVs, wir sehen die Dinge also mit ihren Augen.“ In einigen Szenen wünscht man sich sogar, es würde weniger geredet.

„Früher haben wir noch das System bekämpft“

Der Auftritt von Andreas Lust dämpft das revolutionäre Pathos. Dietmar, bei dem Luisa, Alfa und Lenor auf der Flucht Unterschlupf finden, hat als ehemaliges Mitglied der „Roten Zellen“ ihren Kampf lange hinter sich; nach einer Haftstrafe lebt er mit Dosenravioli als Proviant in der hessischen Provinz. „Aus Dietmar sprechen ganz stark wir Autoren, John Quester und ich“, meint von Heinz.

Die Melancholie in Lusts Blick, sein fast zärtlicher Sarkasmus („Früher haben wir noch das System bekämpft“, sagt er über ihren „Ameisenkrieg“), aber auch seine Hoffnung, von Luisa doch noch aus seiner Isolation errettet zu werden, erzeugt eine Distanz, die „Und Morgen die ganze Welt“ einen komischen, mitunter wehmütigen Tonfall verleiht. Dietmars Lebensentwurf ist Luisa eine Warnung. „Wenn es dir ernst ist, ist es mir auch ernst“, sagt Alfa, als sie zusammen im Bett liegen. Ob er damit ihre Beziehung meint oder ihren Aktivismus, hält von Heinz offen.

Für die Autodidaktin könnte „Und Morgen die ganze Welt“ nach einem hart erkämpften Platz im deutschen Film einen Karriereschub bedeuten. Gerade hat von Heinz mit Marcus H. Rosenmüller den Studiengang Regie an der HFF München übernommen, demnächst wird sie bei ihrer ersten internationalen Produktion Regie führen. Möglich, dass Julia von Heinz den Titel ihres Films auch als sich selbst erfüllende Prophezeiung verstehen darf.

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