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Christoph Peters

© Luchterhand

"Dorfroman" von Christoph Peters: Risse im Atomdorf

Im Zeichen des Schnellen Brüters: Christoph Peters kehrt mit seinem wunderbaren „Dorfroman“ an den Niederrhein zurück.

Zu den spektakulärsten Investitionsruinen der alten Bundesrepublik gehört der Schnelle Brüter in Kalkar. Er ist ein Denkmal des Scheiterns. Sieben Milliarden D-Mark verschlangen die Bauarbeiten für das Kernkraftwerk, das 1985 fertiggestellt wurde, aber niemals Strom lieferte. Ähnlich wie in Gorleben und Wackersdorf hatte es massiven Widerstand gegen das Nuklearprojekt gegeben, bei dem sich die Anti-Atomkraft-Bewegung mit Teilen der Anwohner verbündete. Am Ende war es die Katastrophe von Tschernobyl, die dem Brüter den Stecker zog. Sicherheitsbedenken verhinderten die Inbetriebnahme. Heute befindet sich auf dem malerisch am Niederrhein gelegenen Gelände der Freizeitpark „Wunderland“. Es gibt Karussells und ein Riesenrad, der Kühlturm ist mit einem Alpenmotiv bemalt.

Abfahrt Schanz

Der Schriftsteller Christoph Peters, der 1966 in Kalkar geboren wurde und mittlerweile in Berlin lebt, kehrt mit seinem „Dorfroman“ an den Niederrhein zurück. Das ist wortwörtlich zu verstehen, er beschreibt, wie er nach sechshundert Kilometern Fahrt bei Schanz die Autobahn verlässt und auf der Bundesstraße „das weite Grasland“ in Richtung Rheinbrücke passiert, um am anderen Ufer den 400-Einwohner-Ort zu erreichen, in dem er aufwuchs. Der Ich-Erzähler ist offenkundig mit dem Autor identisch, auch wenn einige Details verfremdet sind. Kalkar und die Kreisstadt Kleve werden altertümlich mit „C“ geschrieben, und das Heimatdorf heißt hier Hülckendonck statt Hönnepel.

Falsche Vertrautheit

Beim Überqueren der Elbe hatte der Reisende „ein fehlgeleitetes Gefühl von Vertrautheit“ gespürt, aber wenn er dann die „gestaffelten Wolkenbänder vor blauem Himmel“ und das Rheinwasser sieht, das „ruhig und stahlgrau“ zum Meer fließt, zeigt sich, warum für ihn diese Landschaft unverwechselbar bleibt: Weil er dort seine Kindheit und frühe Jugend verbracht hat. Naturbeschreibungen, mal lakonisch, mal lyrisch, ziehen sich durch das Buch. Peters ist viel gereist, hat in Japan, Pakistan und der Türkei gelebt und über die Erfahrungen, die er dort sammelte, Romane, Erzählungen und Essays veröffentlicht.

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Vielleicht musste er seine Herkunft hinter sich lassen, um zu spüren, wie tief sie noch in ihm steckt. Als er das Haus erreicht, das seine Eltern vor mehr als fünfzig Jahren gebaut haben, zögert er, bevor er aussteigt. Für den Sekundenblitz einer Augenblickserinnerung steht er noch einmal als 4-jähriger Junge auf der Baustelle, wo der Rasen noch nicht ausgesät ist, während die Eltern Einkäufe ins Haus tragen. „In diesem Moment wusste ich, dass sie mich nicht schützen konnten, mein Vater nicht und meine Mutter nicht – dass ich allein war.“

Mit der Liebe hadern

Schon in seinem autobiografisch grundierten Debütroman „Stadt Land Fluss“ hatte sich Peters 1999 mit seinem Heimatdorf befasst, aus der Perspektive eines Kunstgeschichtsstudenten, der mit der Liebe und seiner Dissertation hadert. Im „Dorfroman“ reicht er nun die Geschichte nach, die er damals – wie er in seinem Blog schreibt – weggelassen habe. Es ist die des Schnellen Brüters im Kalkaer Stadtteil Hönnepel, keine 500 Meter vom Haus des Erzählers entfernt. Damals bekam der Ort den Spitznamen „Atomdorf“. Die Metapher von einer „gespaltenen“ Gesellschaft mag inzwischen zu Tode formuliert worden sein, doch die Lage im Hönnepel der siebziger und achtziger Jahre ist damit ziemlich genau getroffen. Der Reaktor zerriss die Dorfgemeinschaft in einander unversöhnlich gegenüberstehende Lager von Befürwortern und Gegnern. Und der Riss ging mitten durch die Familie Peters.

Kämpfe der Bonner Republik

Der „Dorfroman“ ist ein Memoir, mitunter ein fast doku-fiction-haftes Buch über die ideologischen Kämpfe der Bonner Republik, vor allem aber eine Reflexion über das Erinnern. Das Gedächtnis täuscht, es lässt sich schwer fassen. 1969 oder 1970 war Christoph Peters im Vorschulalter. Streng genommen, räumt er ein, dürfte er keine Erinnerung an diese Zeit haben. War das Licht wirklich hell, aber nicht sonnig? Blühten tatsächlich Lupinen, die den Boden mit Stickstoff anreichern sollten?

Und fühlte er sich plötzlich nur deshalb so mutterseelenallein, weil er gerade eben noch ein Gefühl absoluter Sicherheit empfunden hatte, mit den Eltern als Beschützern? Heute haben die Rollen gewechselt. Der Vater ist vergesslich geworden und fragt immer wieder nach Bekannten, die längst tot sind. Die Mutter hat sich ängstlich in sich selbst zurückgezogen. Müsste jetzt nicht der Sohn zum Beschützer werden? „Seit Längerem“, gesteht er, „denke ich jedes Mal, wenn ich von hier wegfahre, dass ich sie nicht alleine lassen sollte.“ Um am Ende dann doch wieder aufzubrechen.

Versöhnung mit dem Problemsohn

Längst haben Eltern und der einstige „Problemsohn“ sich wieder versöhnt. Dabei gab es eine Zeit, in der sie schwer zerstritten waren. Als acht-, neun-jähriger Junge hatte der Erzähler seinen Vater noch bewundert wie sonst nur die Fußballspieler von Borussia Mönchengladbach oder den Tierfilmer Heinz Sielmann. Rührend, oft hoch komisch wirken die Kapitel, in denen Peters aus der Sicht des Kindes erzählt, das er einmal war. Mit Flipper und Lassie kommt die Welt zu ihm und dem jüngeren Bruder ins Wohnzimmer, wenn nicht der Wind die Fernsehantenne auf dem Dach verdreht und nur das verschneite Programm des „Holländers“ zu empfangen ist.

Rebellion gegen die Staatsmacht

Nichts, davon ist der Junge überzeugt, sei in seiner Gegend wichtig genug, um im Fernsehen vorzukommen. Als dann der Brüter gebaut wird, Demonstranten durch die Dorfstraßen ziehen, begleitet von Polizisten und Fernsehkameras, beginnen seine Zweifel. Der Vater ist aufseiten der Staatsmacht. Als Vorsitzender des katholischen Gemeinderats will er Kirchengrundstücke an den Kraftwerksbetreiber verkaufen. Er scheitert am Widerstand des Bauern Praatz, der die Seiten wechselt und seinen Hof für die jungen Protestler öffnet. Unschwer lässt sich in ihm der Landwirt Josef Maas erkennen, ein legendärer Held der Anti-Atomkraft-Bewegung. Der junge Erzähler rebelliert, lässt sich die Haare wachsen, grüßt demonstrativ Praatz, der von den Nachbarn geschnitten wird.

Fast wie im "Auerhaus"

Der „Dorfroman“ erinnert an Bov Bjergs traurig-komischen Wohngemeinschafts-Roman „Auerhaus“, der ebenfalls von Außenseitern handelt, die in der Provinz Anstoß erregen. Nur dass die Wohngemeinschaft bei Peters deutlich größer ist, sich „Republik freier Niederrhein“ nennt und auf Praatz’ Gehöft von einer Allianz aus Althippies, Punks und Grünen ins Leben gerufen wird. Mit liebevoller Präzision, wie ein Archäologe, der sich über die Hinterlassenschaften einer vor Kurzem erst untergegangenen Kultur beugt, beschreibt Peters Sitten und Gebräuche der Protestkommune. Alles wird noch einmal aufgerufen: die selbst gedrehten Van-Nelle-Halfzware- und Javanse-Jongens-Kippen, die auf Plakate gemalten oder auf Wände gekritzelten Parolen wie „Ihr habt die Macht, aber wir haben die Nacht“. Auch endlose „basisdemokratische" Diskussionen fehlen nicht, die zum Streit darüber eskalieren, ob im Kampf gegen „Bullen“ und „Schweinesystem“ nicht doch Gewalt angewendet werden sollte, etwa in Form eines Bombenanschlags auf den Zaun der Kraftwerksbaustelle. Der Erzähler ist ein Zaungast, weniger an Politik als an Juliane interessiert, einer wilden, verletzlichen Schönheit, die flammende Reden hält.

Gelassen in der Natur

Ihre Liebe wird kein Happy-end finden, man spürt es an der Melancholie, die von Anfang an über der Geschichte liegt. Trost findet der Held in der Gelassenheit, die von der Natur ausgeht. „Am Rheinufer zu sitzen, mit unserem Haus im Rücken aufs Wasser zu schauen, erscheint mir zumindest für Momente wie ein Ausweg aus jeglicher Lage.“ Wer in den Helmut-Kohl-Jahren der alten Bundesrepublik groß wurde, wird in Christoph Peters’ Romanpanorama vieles aus dieser versunkenen Welt wiederentdecken. Für alle anderen ist es eine großartige Kulturgeschichtslektion (Christoph Peters: Dorfroman. Luchterhand Literaturverlag, München 2020. 413 Seiten, 22 €).

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