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Gratulanten. Heinrich Mann (2. von rechts) bei seinem 60. Geburtstag in der Akademie der Künste, mit Bruder Thomas (v. r. n. l.), Arthur Eloesser und Adolf Grimme.

© ullstein bild via Getty Images

Diffamiert und missachtet: Heinrich Mann – der verkannte Volksaufklärer

Heinrich Mann durfte nie aus dem Schatten seines Bruders treten. Dabei schuf er ein vielfältiges Werk und prägte einen militanten Humanismus. Eine Würdigung zum 150. Geburtstag.

„Eigentlich haben sie mich nie gemocht“, beklagte Heinrich Mann kurz vor seinem Tod am 11. März 1950 im kalifornischen Exil die eigene Wirkungsgeschichte. Als Schriftsteller und politischer Essayist war er zum Prügelknaben bürgerlich-konservativer Kritik geworden.

Im Gegensatz zum hochgelobten Thomas Mann wird der Bruder Heinrich, geboren am 27. März 1871 in Lübeck, heute noch als totalitärer Geistesapostel und Humanitätsverfechter ohne Wirklichkeitsbezug diffamiert. Auffällig dabei ist, dass die gängigen Abqualifizierungen bis hin zur Wortwahl aus dem Waffenarsenal des „Bruderzwistes“ stammen.

So polemisierte Thomas aus der Perspektive eines „Unpolitischen“ gegen den engagierten „Zivilisationsliteraten“ Heinrich. Die dramatische brüderliche Beziehungsgeschichte war ebenso mit persönlichen Konflikten verknüpft wie mit den Katastrophen des Zeitalters.

Auch die Verflechtung von Erotik, Familienbezügen und Lebensplänen finden wir im Werk beider Mann-Brüder mit unterschiedlicher Bewertung. Bei Thomas hat man den Zusammenhang von verdrängten (homo-)sexuellen Wünschen und seinem literarischen Produzieren als eine „Notwendigkeit“ erkannt und benannt. Er habe den Lebenskonflikt als Stimulans, Themenreservoir und Strukturmuster seiner Literatur genutzt.

Bei Heinrichs Neigung zu den „Urweibern der Halbwelt“ wollte und will man meist keinen vergleichbaren Lebenskonflikt erkennen, keine „Notwendigkeit“ für dessen Literaturproduktion. Er dokumentierte in Werk und Leben eine Trennung von Liebe und Sexualität – doch Biografie und Literatur korrigierten sich wechselseitig.

Adorno würdigte seinen Schreibstil

Erkennbar ist eine literarische Vieldimensionalität von Liebe und Sozialkritik vor allem in den frühen „Göttinnen“-Romanen , dem „Untertan“, der Exilagitation, der Vernunftutopie „Henri Quatres“ und der Autobiografie „Ein Zeitalter wird besichtigt“.

Mit dem „Untertan“ erreichte Heinrich Ende 1918 eine sensationelle Auflage. Die scharfe Satire auf das wilhelminische Deutschland war unmittelbar nach der Kapitulation, so Marcel Reich-Ranicki, „das richtige Buch im richtigen Augenblick“.

Im Verständnis einer herkömmlichen bürgerlichen Popularästhetik galt Heinrich Manns Schreibstil auch vor 1933 nie als „dichterisch“. Doch brachte er Sätze hervor, die, wie Adorno es ausdrückte, „im Deutschen ohne Beispiel gewesen“ seien und „ihre Spur hinterlassen“ hätten, „weit über den Umkreis dessen hinaus, was die Literaturgeschichte ,Einfluss‘ nennt“.

Dass er schon vor dem Ersten Weltkrieg zur literarischen Vorbildfigur der expressionistischen Aktivisten werden konnte und nach dem Krieg als literarischer Repräsentant der demokratischen Republik galt, verdankte er seiner neu gewachsenen Auffassung von Literatur als öffentlich-politischer Praxis.

Er glaubte an die Macht des literarischen Wortes

Er verwarf das traditionelle Prinzip der gesellschaftlichen Exklusivität von Literatur und setzte auf das neue der intellektuellen Publizistik. Heinrich Manns großes Romanprojekt der radikalen Vernunftutopie ist „Henri Quatre“.

Der König von Navarra war für ihn einer jener „starken Naturen, die vom Mittelmeer ausgingen“ und als Mittler zwischen Renaissance und moderner Aufklärung fungierten. Das im Herbst 1932 begonnene Manuskript blieb im Exil zunächst liegen, da der Autor ausgefüllt war mit tagespolitischer Aktivität, die sich auf Zeitungsartikel, Reden, Aufrufe und Kongressbesuche konzentrierte. Vordergründig erschienen hier Literatur und Politik als Widerspruch.

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Die Barbarei wollte Heinrich Mann nicht mit verstaubtem Bibliothekswissen bekämpfen, aber er glaubte bis zuletzt an die Macht des literarischen Wortes. Mit seinen Exilpublikationen, Essays, Reden, Aufrufen und Romanen, setzte er ein moralisch-politisches Engagement fort, dem er sich schon vor dem Ersten Weltkrieg verpflichtet gefühlt hatte.

Bereits 1910 ging er in seinem Aufsatz „Geist und Macht“ mit deutschen Intellektuellen, vor allem mit Schriftstellern, ins Gericht, die sich vom Volk abtrennten und vornehme politische Abstinenz kultivierten: „Der Faust- und Autoritätsmensch muss der Feind sein. Ein Intellektueller, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist. Denn der Geist ist nichts Erhaltendes und gibt kein Vorrecht. Er zersetzt, er ist gleichmacherisch“, – und „über die Trümmer von 100 Zwingburgen“ dränge er voran.

Er wurde im Exil eine treibende Kraft

„Auch ein Heinrich, vor dem uns graute …“, titelte der „Völkische Beobachter“, um im Februar 1933 den ehemaligen Präsidenten der preußischen „Dichterakademie“ aus dem offiziellen Geistesleben Deutschlands zu vertreiben. Den erzwungenen Aufenthalt in Nizza betrachtete er kaum als Exil – Sprach- und Übersetzungsprobleme existierten für ihn nicht.

Aufgewachsen mit französischer Literatur und Kultur, war Heinrich Mann hier ganz zu Hause, anders als danach in Amerika. In den ersten Jahren des Exils war er eine treibende Kraft – engagierte sich in der Pariser Volksfrontinitiative (Lutétia-Kreis) und verfasste zahlreiche Artikel, die dann als Sammelbände erschienen.

„Das Außerordentliche an den Aufsätzen, die Heinrich Mann im Exil veröffentlichte“, so Bertolt Brecht, „scheint mir der Geist des Angriffs, von dem sie erfüllt sind. Er geht aus von der Kultur, aber die Kultiviertheit bekommt einen kriegerischen Charakter“.

Kritik an Hitler und dem Nationalsozialismus

Kultur war für Heinrich Mann „Volkskultur“ im Sinne von „Menschenpflege“. Sein Volksfrontideal, das unter anderem auch von dem jungen Exilanten Willy Brandt unterstützt wurde, hatte die „Front Populaire“ Léon Blums zum Vorbild, die in Frankreich Intellektuelle, Arbeiterfunktionäre und bürgerliche Politiker zusammengeführt hatte.

Im Juni 1936 bekannte sich auch der Bruder Thomas öffentlich zu Heinrichs Ideenpolitik des „militanten Humanismus“. Später, als die Nationalsozialisten den Krieg entfesselt hatten, sah Heinrich Mann keine sittliche und geistige Entwicklungsmöglichkeit der Deutschen mehr. Er konstatierte resigniert, dass sie „ihre armselige Weltanschauung, die antisemitisch und sonst nichts ist, zum Gesetz“ erhoben hatten.

Hitler führe eine „grausige Groteske“ vor. Humanismus und Vernunft als Programm der Aufklärung scheiterten am historischen Entscheidungszwang zwischen Hitler und Stalin. Doch kann man dafür die Volksfrontintellektuellen verantwortlich machen?

Seine Urne und sein Nachlass kamen nach Berlin

Heinrich Manns Vorstellungen von einem neuen Deutschland waren mit einer neuen Europa-Vision verknüpft. Allerdings wehrte er sich auch in Kalifornien gegenüber den Abschiebeplänen nach Ostberlin. Nach der Zementierung der deutschen Spaltung 1949 war sein Hauptkummer, „dass nur ein Teil Deutschlands“ ihn rufe.

Bis zuletzt hat er auf eine Einladung Adenauers gewartet. Geschrieben hat ihm nur Wilhelm Pieck. Entscheidung und Reise wurden ihm erspart. Ein gütiges Schicksal zog ihn am 12. März 1950 „aus dem Verkehr zurück“.

Dagegen, dass man 1961 seine Urne nach Ostberlin holte und Ulbricht erklärte: „Er ist unser“, konnte er sich nicht wehren. Auch der Nachlass kam nach Ostberlin. Die Akademie der Künste verwaltete Archiv und Lizenzen. Wesentliche Ursache für die Forschungs- und Verlagsmisere war die deutsch-deutsche Rezeptionsproblematik.

Nach wie vor ist Heinrich Mann nicht wirklich in die öffentliche Diskussion zurückgekehrt. Doch der militante Humanismus ist generell verschwunden. Wo sind die kritischen Streiter, die geistigen Kraftzentren, die die Debatten über die EU, Pandemiegesetze oder die Zukunft der Demokratie anführen?

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