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Totale Gegenwart. Simultanpalaver auf drei Podien. Wem soll man zuhören?

© Stephanie Pilick/HKW

Haus der Kulturen der Welt: Die Zeit ist aus den Fugen

„100 Jahre Gegenwart“: Das Haus der Kulturen der Welt bricht auf zu einem rätselhaften Projekt.

Von Gregor Dotzauer

Was das Phänomen Gegenwart ausmacht, ist ungefähr so schwer zu fassen wie das, was der Heilige Augustinus über das Phänomen Zeit schrieb: „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es einem erklären will, der danach fragt, weiß ich es nicht.“ Als subjektive Erfahrung, in der verschiedene raumzeitliche Eindrücke zu einer vorübergehenden Einheit zusammenfinden, hat die Rede von Gegenwart nur eine begrenzte Verbindlichkeit und gehört deshalb zwar zu den Forschungsgegenständen von Philosophie, Soziologie und Psychologie, nicht aber zu denen exakterer Wissenschaften wie der Physik.

„100 Jahre Gegenwart“

Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) behauptet nun sogar zu wissen, was „100 Jahre Gegenwart“ sind. So nämlich lautet das Thema, mit dem sich das HKW in den kommenden vier Jahren beschäftigt. Das Projekt, heißt es im schönsten Kuratorensprech, „verbindet Zeitdiagnosen mit Handlungshorizonten, erschließt die Potenziale der Vergangenheit, imaginiert alternative Ausgänge.“ Dazu, Ratlose und Verwirrte im „planetarischen Zusammenwirken technologischer, menschlicher und natürlicher Kräfte“, muss „jenseits eingeschliffener Bezugssysteme gedacht werden“.

Immerhin fällt am ersten Abend des fünftägigen Auftaktsymposions nicht noch das Wort von der holistischen Herangehensweise. Dafür beten Bernd Scherer, Intendant des HKW, und die Wissenschaftssoziologin Helga Nowotny gleich zu Anfang ein zeitkritisches Einmaleins herunter, dessen allzu bekannte Topoi sich unter der Firnis eines zeitgenössischen Technovokabulars verbergen. Es geht nicht mehr ohne die Erwähnung von Algorithmen, Big Data, Drohnen und das Anthropozän, dem das HKW seinen letzten, viel einleuchtenderen Schwerpunkt gewidmet hatte. Das Ganze will hinaus auf einen Zusammenhang von Wissenschaft, Technologie und Zeitregime, in dem sich ein „latenter Kriegszustand“ (Scherer) offenbart, der im „Kampf um Ressourcen“ den „Zusammenbruch von Ordnungssystemen“ bewirkt.

Kapitalimuskritik: „Ich kaufe, also bin ich“

Das alles lohnt sich zu denken, weil damit womöglich tatsächlich etwas Neues beginnt. In den Formen der guten alten Kapitalismuskritik und des guten alten Entschleunigungsdiskurses, die noch einmal den Konsumismus („Ich kaufe, also bin ich“) geißeln, das Bild des Hamsterrads bemühen und die „Vernichtung der Sinnressourcen Vergangenheit und Zukunft“ in den Schraubzwingen eines alles beherrschenden Jetzt beklagen, greift es zu kurz. Hat nicht der Soziologe Hartmut Rosa, den Nowotny in ihrer Key Lecture kurz zitiert, eine Theorie der Beschleunigung ausgearbeitet, die sich weniger auf messbare Vorgänge in der Zeit bezieht, als auf einen Wandel der Erwartungsstrukturen und Temporalhorizonte? Und lässt sich dagegen eine Strategie der Achtsamkeit entwickeln, die nicht bloß Reparaturarbeit am gestressten Ich wäre?

Gleichzeitig könnte man fragen, ob das 20. Jahrhundert tatsächlich ganz im Zeichen einer alles aufzehrenden Gegenwart stand. Man kann ihre 100-jährige Geschichte, Scherer folgend, mit einer Verquickung von militärischer und ziviler Forschung ansetzen, wie sie im Haber-Bosch-Verfahren zur Herstellung von Ammoniak ihren Niederschlag fand. Der Stoff fand sowohl als Kunstdünger Einsatz wie bei der Herstellung von Sprengstoff. Die Chemikerin Clara Immerwahr entzweite sich mit ihrem Mann Fritz Haber über die Pervertierung von Wissenschaft im Dienst der Armee und nahm sich 1915, nach einem Kampfgaseinsatz an der Westfront, das Leben.

Wie defininiert man Gegenwart?

Doch gibt es zur Allgegenwart industrieller Prozesse nicht eine geistesgeschichtliche Gegenbewegung, die sich allem Positivistischen und rein Präsentischen zu entziehen versucht? Wohin mit Simone Weils negativer Theologie? Wohin mit Theodor W. Adornos negativer Ästhetik? War Jacques Derridas Attacke auf die abendländische „Metaphysik der Präsenz“, der er etwas stets Entgleitendes, Abwesendes gegenüber stellen wollte, nicht der negativistische Höhepunkt der jüngeren Philosophiegeschichte? Und um die Dinge noch einmal andersherum zu drehen: Liegt im „Gerade Eben Jetzt“, das der Literaturwissenschaftler Eckard Schumacher als Charakteristikum von Popliteratur definiert und auf Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann, Hubert Fichte und Kathrin Röggla bezieht, per se ein affirmatives Moment? Ohne eine tragfähige Definition von Gegenwart kommt man da nicht weiter.

Der Sache des HKW hilft es wenig, dass nach dem Eröffnungsvortrag jeweils drei simultane,auf die Kopfhörer des Publikums übertragene Rednerpaare in zwei aufeinander folgenden Schichten auftreten und vor Leinwänden mit Clips und Fotos über Gefängnisse, Labore und träumende Kollektive reden – offenbar die neuralgischen Punkte der Gegenwart. Es sind hochmögende Wissenschaftler und Künstler, die hier über Fracking, Isolationshaft, Bruno Latour, Guantanamo, sowjetische Panzerruinen in Zimbabwe, Daniel Paul Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ oder die französische Psychiatrieklinik La Borde diskutieren. Das Hinundherzappen erfordert allerdings ein Multitasking, das keinem Podium gerecht wird. In ein paar Tagen soll man die Gespräche einzeln und gekürzt im Netz abrufen können. Vergangenheit als Sinnressource oder Datenkrümel für die Serverschluchten? Es wird wohl beides sein.

Die Gespräche sind nachzuhören unter hkw.de/de/app/mediathek/sounds.

Ein Live-Stream zu den Veranstaltungen läuft unter voicerepublic.com.

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