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Gewalt baut eine Diktatur. Szene aus "#diewelle2020" im Grips Theater.

© David Baltzer/Grips Theater

„Die Welle“ im Grips Theater: Wieso sagt keiner Nein?

Verführung durch Gemeinschaft: Das Grips Theater adaptiert den berühmten Jugendroman „Die Welle“. Darin verfallen Schüler autoritären Parolen.

Zu den nervigsten Eigenschaften der Gegenwart zählt ihre Arroganz gegenüber der Vergangenheit. Alles Gestrige oder gar Vorgestrige erscheint von heute aus betrachtet ja als mehr oder weniger vorzivilisatorische Veranstaltung von Menschen ohne Smartphone und mit schlechtem Klamottengeschmack.

Insofern erstaunt es auch nicht, dass die Lehrerin Berit Rosenberg auf ihre Frage „Glaubt ihr, eine Diktatur wäre in Deutschland heute nicht mehr möglich?“ eine so prompte wie überhebliche Antwort aus dem Klassenkreis erhält: „Auf keinen Fall! Dafür sind wir viel zu aufgeklärt!“

Okay, auch die Pädagogin selbst hat nicht immer die besten Entgegnungen parat. Zum Beispiel, als Schülerin Laura berechtigterweise zum Thema Nazizeit wissen will: „Wie konnte das passieren? Wieso hat die große Masse nicht einfach Nein gesagt?“

Das Experiment läuft aus dem Ruder

Statt nun die historische Situation unter besonderer Berücksichtigung von Elias Canettis „Masse und Macht“ aufzuarbeiten, setzt die Gesamtschullehrerin lieber ein psychosoziales Experiment in Gang, das den guten alten Learning-by-Doing- Ansatz aus dem Ruder laufen lässt und eine fatale Eigendynamik entwickelt – als Bewegung „Die Welle“.

Der gleichnamige Jugendroman von Morton Rhue zählt ja noch heute zur Pflichtlektüre an Schulen. „Die Welle“ schildert einen realen Versuch, den der Lehrer Ron Jones 1967 an einer kalifornischen Highschool unternommen hat.

Jones spannte seine Schüler zu einer autoritäts- und disziplinhörigen Gruppierung mit Logo und simplen Leitsätzen zusammen, die ihnen die Illusion vermittelte, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Dem unterwarfen sie sich bereitwillig, was binnen Tagen außer Kontrolle geriet.

Die Bühnenadaption ist für Social-Media-Zeitalter modernisiert

Am Grips Theater bringt Regisseur Jochen Strauch das Buch in eigener Fassung auf die Bühne, fürs Social-Media-Zeitalter modernisiert als „#diewelle2020“.

Trotz einiger Verweise auf den aktuellen Bocksgesang des Populismus – Trump kommt dabei ebenso vor wie das kühl kalkulierte „Vogelschiss“-Fanal der AfD – bleibt Strauch der Vorlage im Wesentlichen allerdings treu. Was auch gut ist!

Erst vor Kurzem hatte ja die deutsche Netflix-Serie „Wir sind die Welle“ von Produzent Dennis Gansel Streaming-Premiere, die den Spieß politisch umdrehte und von einer Gruppe irgendwie linksbewegter Weltverbesserer-Kids erzählte, die in ihrem Kampf gegen Schlachthöfe und Waffenfabriken mit Gewalt übers Ziel hinausschießen. Ein seltsam richtungsloses Unterfangen, Wasser auf die Mühlen der Relativierer, die gern Nazis mit der RAF gleichsetzen.

Das Gemeinschaftsgefühl verführt

Strauchs „welle2020“ schafft es vor allem, die Verführungskraft des Gemeinschaftsgefühls zu beglaubigen. Lehrerin Berit Rosenberg (Katja Hiller), die mit ihrer Kollegin Ellen (Regine Seidler) liiert ist, hat es mit einem undisziplinierten Haufen zu tun, den der Regisseur – stimmige Idee – mitten im Publikum platziert.

Das halbgebildete Großmaul Benjamin (Frederic Phung), der coole Fußballer David (Ludwig Brix), Außenseiter Robert (Marius Lamprecht), der sich früh anfällig zeigt („Bald ist Deutsch in Berlin eine Fremdsprache“), die Schulblog-Reporterin Laura (Alina Strähler) sowie ihre Freundin Anna (Esther Agricola), die unter Instagram-Neid leidet – sie alle belachen zwar noch die ersten Hab-acht-Übungen, mit denen das Experiment startet. Aber für die ausgegebenen Parolen „Stärke durch Disziplin, Kraft durch Gemeinschaft, Macht durch Handeln“ sind sie schnell entflammbar.

[Grips Theater, Hansaplatz, wieder am 18. 1., 19.30 Uhr, und danach bis Juni]

Einzig die kritische Alexandra (Lisa Klabunde) hält sich abseits, während der „Welle“-Hoodie zur neuen Schuluniform wird, ein Erkennungsgruß Identität stiftet und Außenstehende zunehmend ins Fadenkreuz geraten.

Auf weitgehend leerer Bühne mit rollenden Tischen, vor einer Klappwand, die schulische und private Räume markiert oder zur Projektionsfläche wird (Ausstattung: Christin Treunert) wird Pädagogin Rosenberg als geistige Führerin der Bewegung selbst vom Machtrausch mitgerissen.

Strauchs Inszenierung für Menschen ab 14 macht in zweieinhalb überwiegend mitnehmenden, toll gespielten Stunden die zentrale Erkenntnis aus Jones’ Experiment erfahrbar: Das Gespenst des Faschismus ist nicht gebannt. Keiner bringt das im Stück besser auf den Punkt als der „Welle“-hörige Benjamin: „Wenn alle mitmachen, wird auch niemand verprügelt!“

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