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Herzlichen Glückwunsch. Ruth Westheimer ist 92 Jahre alt.

© Filmwelt

Film über Sex-Expertin Ruth Westheimer: Die wahre Liebe

Sie floh vor dem Holocaust in die USA und stieg zur Sex-Aufklärerin auf. Der Dokumentarfilm „Fragen Sie Dr. Ruth“ porträtiert Ruth Westheimer.

„Okay, steck sie wieder ein“, sagt die alte Dame lächelnd mit vernehmbarem deutschen Akzent und theatralischer Gestik. „Wenn sie das nicht weiß, was bringt sie mir dann?“ Gemeint ist die Amazon-Sprachsteuerung Alexa. Ruth K. Westheimer hatte Alexa gerade vergeblich gefragt, ob sie demnächst einen neuen „Boyfriend“ finden werde. Dann gibt sie ihr doch noch einen Chance: „Alexa, wer ist Dr. Ruth?“ „Ein Handtuch ist saugförmiges Material...“ „Nein, wer ist Dr. Ruth Westheimer?“ „Dr. Ruth Westheimer, besser bekannt als Dr. Ruth, ist eine in Deutschland geborene jüdische Immigrantin in den USA, die zur festen Größe im Late-Night-TV und Pop-Ikone wurde als Sextherapeutin, Medien-Persönlichkeit und Autorin“, gibt Alexa brav Auskunft. Dr. Ruth lacht. Und gewährt Alexa wohl erstmal Heimstatt in ihrer mit Bücherstapeln und Erinnerungen gefüllten New Yorker Wohnung mit weitem Blick über den Hudson River.

Alexa hält sie für ein Handtuch

Die Szene steht am Anfang des Dokumentarfilms „Fragen Sie Dr. Ruth“ und fasst nicht nur knapp Lexikon-Wissen zusammen. Sie skizziert auch die Persönlichkeit einer Frau, die als einzige ihrer Familie der Vernichtung der Shoah entkam und ein Leben mit Power, Humor und Pflichtgefühl gegen diesen Verlust an familiärer Wärme ankämpft. Vielleicht unausweichlich, dass sie dabei irgendwann ins Licht der Öffentlichkeit geriet, auch wenn ihre Entdeckung fast zufällig geschah.

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Denn die promovierte Wissenschaftlerin arbeitete 1981 als Sexual-Therapeutin an der New Yorker Cornell Universität, als der Rundfunksender WYNY einen Gast für eine Sendung zur Sexualkunde suchte. Westheimer fand sich als einzige bereit. Und wurde bald für eine wöchentliche Ratgeber-Show geworben, die erstmals in den USA ganz offen Fragen des Liebeslebens ansprach. Von da brauchte es kein Jahr zum großen Durchbruch als Medienstar. Ab 1984 ging Westheimer ins Fernsehen, wo sie als „Dr. Ruth“ über 500 mal Fragen zu klitoralem Sex, Masturbation, Partnerschaftsproblemen beantwortete und gleichzeitig über Aids aufklärte. Überhaupt trat sie leidenschaftlich für Emanzipation und Diversität ein. Dafür bekam sie tiefen Dank von Einzelnen, erntete aber auch Feindschaft aus dem großen Lager der Prüderie.

92 Jahre alt, 1,40 Meter groß

Regisseur Ryan White begleitet die alte Dame durch ihre vielfältigen professionellen und familiären Routinen. Denn die vitale 1,40-Meter-Frau denkt trotz ihrer über neunzig Jahre nicht an Rückzug. Sie lehrt an zwei Colleges, hält Vorträge quer im Land und lässt sich als Gast zu Fernseh- und Radiostationen kutschieren. Und sie reist gemeinsam mit dem Regisseur in die eigene Vergangenheit, wo sie 1928 als Karola Ruth Siegel in einem Dorf bei Frankfurt als einziges Kind jüdisch-orthodoxer Eltern geboren wurde. Eine glückliche Kindheit. Doch 1938 ließ die Familie die Tochter vorsorglich allein in ein Kinderheim in der Schweiz verschicken. Und irgendwann blieben die Briefe von Eltern und Großmutter aus.

Nach dem Krieg folgten die Auswanderung nach Palästina und ein Psychologie-Studium an der Sorbonne. Ein Wiedergutmachungs-Scheck der Bayerischen Staatsbank ermöglichte 1956 die Übersiedlung in die USA („Ein Lebenstraum!“), wo Ruth (wie sich nun nannte) Arbeit bei Planned Parenthood fand und sich wissenschaftlich weiterbildete. Und die Frau, die sich selbst als „Waise des Holocaust“ bezeichnet, fand mit dem dritten – 1997 verstorbenen – Ehemann Fred endlich selbst „die wahre Liebe“ und bekam ihr zweites Kind.

Weinen will sie nur ohne Kamera

White lässt Westheimer von diesen Erlebnissen berichten, reist mit ihr in die Schweiz und nach Israel, wo sie im Archiv von Yad Vashem nach dem Schicksal ihrer Eltern forscht. „Weinen werde ich später, wenn niemand mehr da ist“, schreibt sie ins Gästebuch. Eine Haltung, zu der die visualisierende Animationen mit Weichzeichner-Gefühligkeit im Film wenig passen wollen. Kongenialer zu Westheimers forschem Auftreten der treibende Schnitt. Und die vielen so amüsanten wie aussagekräftigen Einspieler aus den TV-Archiven, die „Dr. Ruth“ in kämpferischer Aktion zeigen.

Nur den Begriff des Feminismus überlässt sie gern Tochter und Enkeltöchtern. Trumps Affären? „Jemand, der so viel über Sex spricht wie ich, muss sich aus der Politik raushalten“, sagt sie. Doch auch ohne ein Statement ist klar, dass die einzige Verbindung zwischen der kleinen großen Frau und dem Schein-Koloss im Weißen Haus die nur in Details anders geformte Betonfrisur ist.

So lässt sich „Fragen Sie Dr. Ruth“ getrost auch als deutliches Statement gegen anti-emanzipative Entwicklungen in den USA lesen (in Berlin läuft "Fragen Sie Dr. Ruth" im Capitol, Filmtheater am Friedrichshain, Kant Kino, Xenon, Yorck - alle OmU)

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