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Kuckuck! Die holländische Filmemacherin Aliona van der Horst sitzt ihrer Tante im Familienporträt „Love is Potatoes“ wortwörtlich im Nacken.

© Dok Leipzig

Dok Leipzig 2017: Die Schwätzer und die Schweiger

Erzählen auf Augenhöhe: Beobachtungen und Einordnungen zum Abschluss der 60. Ausgabe des Dokfilm-Festivals in Leipzig.

Duzen kann ein Fehler sein. Auch wenn die Filmemacherin Sabine Michel ihr beim Dokfilm-Festival Leipzig kontrovers diskutiertes Porträt dreier Pegida-Aktivisten „Montags in Dresden“ schon im einleitenden Kommentar als subjektive, betont unpolitische Spurensuche in ihrer 1990 verlassenen Heimatstadt einordnet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie allzu leichtfertig ein Minimum an dokumentaristischer Distanz aufgibt. Gerade die Duzerei der unsichtbaren Interviewerin ist es, die diesen Eindruck deutlich verstärkt.

Die Zeiten sind kalt, da wächst der Wunsch nach Wärme, nach Nähe. Wenn sich bei der Jubiläumsausgabe des 60. Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig ein Trend, eine Mode feststellen lässt, ist es das Bemühen um Unmittelbarkeit, um Intimität, um eine Augenhöhe, die den Verfremdungseffekt Kamera minimieren soll.

In dem so stillen wie packenden, ganz auf den Protagonisten konzentrierten Schwarz-Weiß-Porträt „Licu, a Romanian Story“, das mit dem Hauptpreis, der Goldenen Taube ausgezeichnet wurde, wandelt sich Filmemacherin Ana Dumitrescu von der Beobachterin zur Besucherin. Je länger der greise Ingenieur Licu von seinem Leben unter Ceausescu und im korrupten Post-Kommunismus erzählt, desto näher kommt ihm die immer öfter hörbare Interviewerin, für die er sogar ein Gedeck auf den Esstisch stellt.

Plötzlich werden die Befragten zu Fragern

Noch weiter geht Regisseurin Aliona van der Horst. Sie hockt sich im – mit eindrucksvollen Animationen von Simone Massi geschmückten – Porträt „Love is Potatoes“ ihrer vom Stalinismus geprägten Familie mal eben neben die gelähmte Mutter und zeigt ihr das Bild auf dem Videomonitor. Regisseur Milo Rau setzt sich in der Dokumentation seines Theaterprojekts „Das Kongo Tribunal“ (Kinostart: 16. November), die der absolute Publikumsrenner in Leipzig war, selbst breit als Akteur in Szene. Und in „Touching Concrete“, der im deutschen Wettbewerb platzierten Begegnung des Filmemachers Ilja Stahl mit einer Jungsclique im Johannesburger Stadtteil Hillbrow verkehren sich die Positionen ganz, wenn die Teenager die Gelegenheit nutzen, um zu fragen, wie denn Langstreckenflüge so sind und ob dem Team der Dreh gefallen hat.

Rumänien von innen. "Licu, a Romanian Story" von Ana Dumitrescu gewinnt die Goldene Taube 2017.

© Dok Leipzig

Das passt gut zum lässigen Gestus der Hip-Hop-befeuerten Milieustudie südafrikanischer Drifter. Quer durch die Filme betrachtet, erweckt der Plauderton jedoch den Eindruck, dass er eine konzeptionelle Armut kaschieren soll. Oder sogar den Unwillen, dem gefilmten Sujet gegenüber eine Haltung zu beziehen. So nach dem Motto: Wir zwei reden ja nur ein bisschen, da kommt es weder auf Gedankenschärfe, Erinnerungstiefe und gleich gar nicht auf Fakten an.

Ein Effekt, der sich bei Altmeistern wie Marcel Ophüls oder Volker Koepp, die auch immer in ihren Dokumentationen präsent sind, interessanterweise nicht einstellt. Und das, obwohl das Dilemma subjektiven Erzählens seit Erfindung der „Oral History“ existiert. Kombiniert mit der formal freien Anlage künstlerischer Filme, bei denen Kommentare und Zwischentitel meist verpönt sind, stellt sich beim Zuschauen mitunter doch eine Sehnsucht nach der erkenntnisorientierten Dramaturgie von Fernsehdokus ein.

Auch puristische Arthouse-Bilder können geschwätzig sein

Überhaupt teilt sich die aus einer Rekordzahl von 3000 Einreichungen ausgewählte Dokfilm-Welt in die Schweiger und die Schwatzer, was sich auf die Bilder wie die Worte bezieht. Da ist der wortkarge Gaucho im argentinischen Abgesang auf einen sterbenden Beruf „La Nostalgia del Centauro“, da sind der stete Erzählfluss des polnischen Bodybuilder-Porträts „Call Me Tony“ und die sowohl eingeblendeten wie eingesprochenen Texte in Shelley Silvers Silicon-Valley-Essay „A Strange New Beauty“. Doch auch puristische Arthouse-Filmbilder können geschwätzig sein. Auch das ist eine Erkenntnis aus dem diesmal bestenfalls mittelprächtig ausgefallenen Hauptwettbewerb des 1955 gegründeten, weltweit ältesten Dokumentarfilmfestivals (Tsp vom 28. 10.).

Hau ruck. "Gwendolyn" von Ruth Kaaserer zeigt eine berentete Anthropologin, die auch als Krebspatientin noch als Gewichtheberin brilliert

© Dok Leipzig

Pushkar Myths“ aus Indien etwa erzählt in endlosen spröden Impressionen des dortigen Hindu-Fests von der Verwandlung einer spirituellen Feier in ein Touristenspektakel. Kurz vor Ende des Hundertminüters macht plötzlich eine Sequenz alle Plackerei des Sehens wett und zeigt, was der Dokumentarfilm kann. Da fokussiert die Kamera ein paar seltsame Gestalten, die sich unter eine traditionelle Tänzergruppe gemischt haben. Wild bemalt und mit Indianer–Kopfputzen angetan, zucken sie im Rhythmus der Trommeln. Die Inder am Rande des Festplatzes zücken die Handys und bestaunen sie. Neugierig, amüsiert, aber mit Befremden im Blick. Plötzlich dreht sich ein Bemalter um – es ist ein wild posierender Weißer – und die bizarre Wirklichkeit einer auch kulturell globalisierten Welt schießt in einem Augenblick zusammen.

Riten der Völker, Arbeitswelten, Reisen durch Erinnerungen, Landschaften und Räume, Menschenleben, die eben nicht nur eins zu eins als Sozialreportage erzählt werden – all das war in Leipzig wieder reichlich zu finden. Darunter Perlen wie „Gwendolyn“, Ruth Kaaserers herrlich lakonisches Porträt der Anthropologin Gwendolyn Leick, die das Gewichtheben für sich entdeckte und mit 65 und trotz KrebsOP zu den europäischen Meisterschaften nach Aserbaidschan fährt.

Das Festival führt eine Quote für Regisseurinnen ein

Gut, dass Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrer Festrede die öffentlich-rechtlichen TV-Sender, die sich aus der Dokumentarfilmproduktion zurückgezogen haben, in die Pflicht nahm und mehr zuschauerfreundliche Sendeplätze forderte. Noch besser ist, dass Dok Leipzig sich zum 60. Geburtstag nicht nur in der Retrospektive über kommunistische Herrscher, dem Geschichte und Gegenwart verknüpfenden Jubiläumsprogramm, einem Länderschwerpunkt Georgien und in Debatten zum politischen Film seines angestammten Profils versicherte, sondern auch ein Zeichen für die Zukunft setzt.

2018 und 2019 wird es im deutschen Wettbewerb eine Quote für Regisseurinnen geben, wie Direktorin Leena Pasanen verkündete. Allerdings war im Gespräch mit Ralph Eue, dem Chef der Auswahlkommission, noch nicht zu erfahren, wie genau die rechnerisch aussehen soll. Die Tatsache, dass sich speziell im deutschen Wettbewerb diesmal unter neun Filmen nur eine Co-Regisseurin findet, sei für sie Anlass für einen Blick in die Festivalstatistik gewesen, sagt er. Dabei ergab sich alle drei Jahre dasselbe Muster.

Das betrifft aber weder den internationalen Wettbewerb noch den für Kurzfilme. „Irgendwo zwischen Kurz- und Langfilm gehen die deutschen Frauen verloren“, sagt Eue, der bei den Filmhochschulen und Fördergremien keine Versäumnisse sieht. Um dem strukturellen Defizit besser beizukommen, will Dok Leipzig ein Stipendium zur Ursachenforschung ausloben. Auf deren Ergebnis wollten Pasanen und Eue aber nicht warten, sondern endlich Veränderungen einläuten. Quasi nach der Strategie „Frauen reicht in Leipzig ein, hier bekommt ihr größere Aufmerksamkeit“. Ob nun ein Ruck durch deutsche Produktionsfirmen geht, die Projekte von Regisseurinnen zu forcieren, wird sich 2018 in Leipzig zeigen.

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