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Begnadeter Performer. Fiston Mwanza Mujila.

© IMAGO/Panama Pictures

Poesiefestival Berlin 2022: Die Neuerfindung des Mosaiks

Was heißt es, in Europa über Afrika zu sprechen? Ein Brief von Fiston Mwanza Mujila.

Fiston Mwanza Mujila, 1981 in Lubumbashi in der Demokratischen Republik Kongo geboren, lebt als Erzähler, Dichter und Dramatiker im österreichischen Graz. Im Zsolnay Verlag ist gerade sein Roman „Tanz der Teufel“ erschienen. Katharina Meyer hat seinen eigens für den Tagesspiegel geschriebenen Brief aus dem Französischen übersetzt. Der Adressat ist der aus Kärnten stammende und in Graz lebende Zeichner und Maler Franz Yang-Momnik (yangmocnik.com). Mwanza Mujila kuratiert am Samstag, den 18. 6., um 19 Uhr in der Akademie der Künste am Hanseatenweg "Die Traumfabrik", einen Abend mit Gesprächen, Lesungen und Musik, an dem er mit Gästen aus mehreren afrikanischen Ländern eine „Poetische Kartografie von Afrikas neuer Urbanität“ zu entwerfen versucht.

Lieber Franz Yang-Momnik,

beim Schreiben durchlebe ich manchmal intensive Momente der Freude, der Traurigkeit, der Angst oder der Erfüllung. Etwas zu erschaffen, bedeutet, eine Reise durch Sümpfe zu unternehmen, einen krokodilverseuchten Fluss zu überqueren, eine Hochzeitsreise zu improvisieren, an einem Karneval teilzunehmen ... Manchmal ist man derart inspiriert, dass man nicht mehr schreiben kann. Deine Hand zittert wie verrückt. Ideen, Farben, Sätze, Gerüche und Geistesblitze verschlingen sich im Kopf.

Am Ende der Zeremonie fühlt sich der Körper an wie durch die Mangel gedreht. Ich hoffe, Du trägst es mir nicht nach, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich war in einer Spirale gefangen. Um es mit einem von mir selbst geprägten Begriff zu sagen: Dieser Tage wache ich mit der Sonne im Mund auf.

Unsere Diskussion vom letzten Monat sitzt mir noch im Nacken. Du bist gewiss mit mir einer Meinung, dass es viel Vorsicht und Genauigkeit erfordert, in Europa über Afrika zu sprechen. Es ist die Arbeit eines Geografen und eines Historikers, gepaart mit einer Prise Pädagogik. In der westlichen Vorstellungswelt wird der Kontinent immer wieder mit Bürgerkriegen, Unterernährung, Malaria, Unterentwicklung, Patriarchat oder religiöser Intoleranz in Verbindung gebracht.

Afrika erscheint wie eine homogene Struktur, ein exotischer, nicht greifbarer, chaotischer und überdimensionaler fantastischer Raum. Diese Stereotype unterfüttern bis heute die Klischees und konstituieren Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Man sollte auch nicht vergessen, dass dieser Kontinent bis 1960 – dem Jahr der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Länder – von Philosophen, Reisenden, Missionaren, Verwaltern, Geografen, Historikern u. a. mit westlicher Perspektive beschrieben wurde.

Diese Masse an Informationen aller Art hat viel zum westlichen Bild von Afrika beigetragen. Der Philosoph Valentin-Yves Mudimbe verwendet dafür den Begriff Kolonialbibliothek. Nach der Entkolonialisierung bringen sich nun afrikanische Intellektuelle in diese Bibliothek ein, um die Zeichen zu dekodieren und ihre Bedeutung zu revidieren. Die Filmografien von Ousmane Sembene, Sarah Maldoror oder Djibril Diop Mambéty stehen im Zeichen dieses Prozesses, die afrikanischen Erinnerungen zu rehabilitieren. In der Literatur ist zu beobachten, was in der postkolonialen Forschung als „writing back“ bezeichnet wird, wobei Schriftsteller aus den ehemaligen Kolonien Texte über Afrika neu schreiben.

Dakar, Lagos, Johannesburg _ ein Schmelztiegel

Das heißt aber noch lange nicht, dass die Afrikaner:innen und Afrika diese Dualität leben – oder sich gar von ihr nähren. Die Welt hat sich in den letzten 50 Jahren grundlegend verändert. Wie alle Metropolen, so verwandeln sich auch die modernen afrikanischen Städte in einen kulturellen Schmelztiegel. In Dakar, Lagos, Johannesburg oder Kinshasa haben die Jugendlichen die gleichen kulturellen Referenzen wie ihre Altersgenossen in anderen Teilen der Welt. Das städtebauliche Erbe trifft auf althergebrachte, postkoloniale und westliche kulturelle Praktiken oder macht sie sich zueigen. Ganz deutlich zeichnet eine transnationale, kosmopolitische und pluralistische Urbanität ab, die mit der (post-)kolonialen Ordnung und den überlieferten Werten und dem Wissen der Ahnen konkurriert.

Der neuen Art, Afrika zu begreifen, die sich, auch beeinflusst von seiner Diaspora, den Afrofuturismus im Gegensatz zum Afropessimismus zunehmend zu eigen macht, kann sich auch diese Urbanität nicht entziehen. Diese neue Globalität ist ein Ort ständiger Neugründungen von Religion, Ethnizität, Geschlecht und zudem ein Schmelztiegel von Kunst und Popkultur.

In freudiger Erwartung auf ein Wiedersehen, Fiston MM

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P. S.: Bezüglich des berühmten Buchs bin ich keinen Millimeter von meiner Position abgewichen: Meiner Ansicht nach gibt es keinen afrikanischen Roman, der allein die Literatur des ganzen Kontinents repräsentieren könnte. Das Mosaik aus Sprachen, Geschichte, Kulturen, religiösen Überzeugungen, klimatischen und geografischen Gegebenheiten gebiert einen einzigartigen und äußerst vielfältigen literarischen Korpus. Es gibt Werke in den alten Kolonialsprachen wie Portugiesisch oder Englisch, Texte aus afrikanischen Sprachen und mündliche Überlieferungen.

Es ist, als würde ich dich bitten, mir ein einziges Buch oder einen einzigen Schriftsteller für ganz Europa zu nennen. Wen würdest Du wählen? Und aus welcher Sprache, aus welchem Land, aus welcher Epoche? Heinrich von Kleist, Ingeborg Bachmann, Marguerite Duras, Dante, János Pilinszky? Ich sehe dich vor mir, wie Du wütend aufspringst, dir eine Kippe anzündest, dir fieberhaft durchs Haar fährst und den Kellner bittest, dir noch einen Campari zu bringen.

P. S. 2: Ich bin gerade dabei, ein langes Gedicht zu beenden, das von der Ausstellung eines Kumpels inspiriert wurde. Ich schreibe dir die Zeilen, die ich heute Morgen aufs Papier gebracht habe:

Metallvögel schleppen Jahre der Migration, der Einsamkeit und des Schmuggelns mit sich herum

Deklarierte Manda, mit nacktem Oberkörper und finsterem Blick, die Hände gen Himmel gereckt, wie ein Bettler in der Herrengasse

um dann mit heiserer Stimme fortzufahren:

die Metallvögel mit Zähnen aus Erz

die Metallvögel mit ihren unbeholfenen Bewegungen

kündigen die Geburt von Zwillingsschwestern an

und damit das sofortige Ende der Sintflut

der einäugige Regenbogen reicht völlig aus

um die Kakophonie der Wolken und Himmelsschlangen zu beherrschen

oh ihr meine Onkel, oh ihr meine patrilinearen Tanten

die Metallvögel sind keine Kathedralen

die Metallvögel sind keine Windmühlen

die Metallvögel gehören nicht zur Sorte Vögel, die ihr kennt

die Metallvögel, ich habe sie gesehen und sogar bei mir aufgenommen, in allen erdenklichen Arten von Gefieder, von Größe, von Gestalt.

manche brabbelten in unbekannten Sprachen daher

andere kicherten, um mir Panik zu machen

oh, Kinder meiner Mutter

sagt nicht, dass ich mir eine Psychose eingefangen habe

und die Metallvögel nichts weiter als das Gespinst meiner eigenen Vorstellung sind

Fiston Mwanza Mujila

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