zum Hauptinhalt
Zwei afroamerikanische US-Bürger an einer Bushaltestelle in Montgomery, Alabama (1956) Sie sind durch eine Barriere von den wartenden Weißen getrennt.

© DPA

Erinnerungen an Little Rock: Die nackte Gewalt der Rassentrennung

Marie Luise Knott bringt die Jüdin Hannah Arendt und den Afroamerikaner Ralph Ellison posthum miteinander ins Gespräch.

Keine 25 Zeilen ist sie lang, die Revisionserklärung Hannah Arendts zu einem ihrer umstrittensten Essays: Sie endet mit den Worten: „Aber Ihre Bemerkungen scheinen mir so zutreffend, dass ich jetzt erkenne, dass ich die Komplexität schlicht nicht verstanden habe.“ Arendts Abbitte aus dem Jahr 1965 ist nicht öffentlich. Es handelt sich um einen Brief, gerichtet an den amerikanischen Schriftsteller Ralph Waldo Ellison, von dem nur ein Durchschlag in Arendts Nachlass erhalten ist.

Diesem Brief und seiner Vorgeschichte hat die Autorin und Übersetzerin Marie Luise Knott nun einen ideengeschichtlichen Essay gewidmet: „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“, erschienen bei Matthes & Seitz. Titelgebend sind die Wohnorte von Verfasserin und Adressat. Beide lebten in New York: Arendt in der Nähe der Columbia University, Ellison etwas weiter nördlich in Harlem. Die Adressen trennte in den 1950er und 1960er Jahren weit mehr als die zwei Meilen, die zwischen den Apartments lagen.

{Marie Luise Knott: 370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison – 17 Hinweise. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 145 Seiten, 22 €.]

Worum geht es? Mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs in Washington 1954 waren die Schulbehörden aufgefordert, die bis dahin geltende Rassentrennung an öffentlichen Schulen aufzuheben. An vielen Orten in den Südstaaten stieß das Urteil auf erbitterten Widerstand: In Little Rock, Arkansas, stand die Nationalgarde auf Seiten der Protestierenden, die schwarze Jugendliche mit „Lyncht sie“-Rufen am Schulbesuch hindern wollten – bis US-Präsident Eisenhower sie dem Bundeskommando unterstellte und weitere Einheiten entsandte.

Die Bilder gingen um die Welt. Hannah Arendt wurde von der New Yorker Monatszeitschrift „Commentary“ um einen Beitrag zu den Ereignissen gebeten. Erscheinen sollte dieser nicht, zumindest nicht in „Commentary“. Arendts Ansatz passte so gar nicht zu Haltung und Erwartungen der Redaktion. Das war bei „Dissent“ kaum anders: Zwar brachte die Zeitschrift den Essay ein gutes Jahr später. Allerdings nur, wie ein redaktioneller Zusatz klarstellte, weil man sich „dissidenten“ Positionen verpflichtet fühlte.

Gut begründete Zurückhaltung

Die Zurückhaltung war gut begründet: Arendt, die aus Deutschland vor den Nazis geflohen war, schien diesmal auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen. Natürlich zeigte sie kein Verständnis für den protestierenden Mob. Aber sie schien auch wenig Gespür für die Konflikte der schwarzen Familien zu haben, die ihre Kinder gegen den Druck der Straße auf nicht-segregierte Schulen schicken wollten. Erziehung sei Privatsache, vermeldete Arendt fast schroff: Besser wäre es, die Auseinandersetzung im öffentlichen Terrain, dem Ort für Politik, zu suchen.

Arendts Kälte irritiert doppelt: Schon vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen als Jüdin ist ihre brüsk-ablehnende Position schwer zu verstehen. Noch verstörender wirkt ihre Erklärung, kontrastiert man sie mit Arendts eigener Theorie und Philosophie: Wie war es möglich, dass die Autorin der „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, die mit Verve gegen Antisemitismus und Nationalismus anschrieb, gegenüber dem amerikanischen Rassismus so blind blieb? Wie konnte es sein, dass die Philosophin des Pluralismus und der Urteilskraft so starrköpfig und einseitig Stellung bezog?

Knott geht dem nicht als erste nach: Auch Maike Weißpflug setzte in ihrem Buch „Die Kunst, politisch zu denken“ (ebenfalls Matthes & Seitz) bei den Einwänden Ellisons an. Will man Arendts Ansatz verstehen, ist das plausibel. Immerhin, so legt Arendts kurze Antwort nahe, scheint Ellison ein Umdenken bewirkt zu haben. Während Weißpflug, die sich für das Urteilen als fast künstlerische Fertigkeit interessiert, systematisch ansetzt, rekonstruiert Knott den Konflikt im historischen Kontext.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Dabei befragt sie zuerst den Brief selbst: Seit der Arendt-Biografie von Elisabeth Young-Bruehl geht die Forschung davon aus, dass das Billet abgeschickt wurde. Knott setzt ein Fragezeichen hinter diese Vermutung: In Ellisons Nachlass findet er sich zumindest nicht. Eine Antwort Ellisons ist ebenfalls nicht überliefert, auch kein Antwortentwurf. Und lassen nicht auch Ton und Stil aufmerken? Die telegrammartige Kürze, der unpersönliche Ton. Dabei waren die beiden sich wohl wenigstens einmal begegnet: Bei einem Dinner im Jahr zuvor, als sie gemeinsam in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen wurden.

Wollte Arendt mit ihrer Nachricht, wenn sie sie denn abgeschickt hat, ein Gespräch über Rassismus und Unterdrückung, über Selbstbehauptung und Würde beginnen? Ohne Umschweife gesteht sie ein, die Vorfälle in Little Rock falsch beurteilt zu haben.

Ein Interview Ellisons habe sie überzeugt. Sie habe die „nackte Gewalt, die elementare körperliche Angst“ nicht begriffen. Fast klingt es allerdings, als gäbe sie ihren Irrtum bloß zu Protokoll, um die Sache abzuschließen. Marie Luise Knotts Buch entfaltet, dass die Sache noch lange nicht abgeschlossen ist.

Hendrikje Schauer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false