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Aufmarsch der Europabefürworter in Kiew 2013. Der frühere ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch im Fokus der Kritik.

© Heinrich Wöstmann/dpa

Blendend erzählte Zeitgeschichte: Die große Erschöpfung

Der niederländische Historiker Geert Mak macht sich an einen Abgesang auf Europa nach der Wende.

Im August letzten Jahres machte ein Zitat der Bundeskanzlerin die Runde. Bei einer Veranstaltung in Stralsund war Angela Merkel gefragt worden, was in 50 Jahren in den Schulbüchern über sie stehen solle. Ihre Antwort: „Sie hat sich bemüht.“ In Geert Maks Buch über die jüngste Geschichte Europas klingt sie wie die Selbstkritik einer Krisenmanagerin im Dauereinsatz, die der Gegenwart nicht genügen zu können glaubt.

Der Satz trifft auch Maks Stimmung. Schwer zu sagen, wann dem niederländischen Journalisten und Historiker die Zuversicht verloren ging. Sicher ist, dass Mak dunkle Wolken über Europa aufziehen sieht. Der Traum von einem geeinten Kontinent ist für ihn ausgeträumt, der Westen am Ende. „Große Erwartungen“ heißt das Buch, auf Charles Dickens’ gleichnamigen Roman anspielend. Immer wieder waren die Hoffnungen groß, oft erwiesen sie sich als falsch.

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Sei es nach der Finanzkrise, als eine Regulierung der heißgelaufenen Märkte versäumt wurde; sei es im Ringen um eine europäische Verfassung, die schließlich doch nur Lissabonner Vertrag heißen durfte und die notwendige demokratische Legitimation vermissen ließ; sei es, als die nördlichen Staaten ihre südlichen Nachbarn in der Schulden- wie Flüchtlingskrise immer wieder im Stich ließen.

Der Horror von Verdun wirkt nicht mehr

Nicht nur in diesen Fällen wäre Einigkeit erforderlich gewesen, tatsächlich überwogen Partikularinteressen. Zu Beginn des Einigungsprozesses sei der Krieg noch in den Köpfen präsent gewesen, schreibt Mak, „nicht selten gab er europäischen Politikern den Mut, über ihren Schatten zu springen“. Der Horror von Verdun und Auschwitz aber wirkt nicht mehr, mit ihm verblasst die Utopie eines geeinten Kontinents.

2005 porträtierte Mak mit „In Europa“ noch voller Optimismus einen Kontinent im Aufbruch. Noch immer ist der 73-Jährige ein glühender Anhänger der europäischen Idee. Wo andere von links wie rechts mit Europa abrechnen, ist bei ihm eher ein wütendes Bedauern über verpasste Chancen zu spüren.

Sein Buch ist als Bericht für eine imaginäre Studentin der Geschichtswissenschaft aus dem Jahr 2069 angelegt. Dieser Fluchtpunkt erlaubt es ihm, die letzten 20 Jahre in einer mitunter überbordenden Detailfülle nachzuerzählen. Als lohnenswert erweist sich die kleinteilige Arbeit, wenn sie mit einem Blick in die fernere Vergangenheit verbunden ist, die unkonventionelle Deutungen der jüngsten Krisen ermöglicht.

So beurteilt Mak etwa die „Willkommenskultur“ durchaus kritisch. In ihr habe sich der Wunsch der Deutschen ausgedrückt, endlich wieder „gut“ zu sein. „Die ungewöhnliche, beinahe euphorische Reaktion zahlreicher Deutscher auf die Flüchtlingskrise hatte viel mit einer neuen Art von Nationalstolz zu tun, die sich nach der Jahrtausendwende entwickelt hatte. Deutschland, so ein weitverbreitetes Gefühl, konnte sich wieder sehen lassen.“

Wir sind wieder wer! Oder was?

Man darf zusammenzucken bei der Wortwahl, erinnert sie doch an das „Wir sind wieder wer“ der Nachkriegszeit. Folgt man der Deutung, befand sich die deutsche Politik in einem unlösbaren Widerspruch.

War die Bundesrepublik gerade wegen ihrer Vorgeschichte immer darauf bedacht, Europa zu stärken, schwächte sie nun zwecks Befriedung nationaler Dämonen ebenjene europäische Integration. Was moralisch nobel gewesen sein mag, zeitigte politisch fatale Folgen. Die Spaltung der EU in der Flüchtlingskrise, der Brexit und die Blockadepolitik Polens und Ungarns – all diese Probleme seien durch den deutschen Sonderweg zumindest begünstigt worden.

Die schwierige Beziehung zwischen den jüngeren Beitrittsländern und der EU rührt aber auch von unterschiedlichen, wenn nicht unvereinbaren Erwartungen her. Vornehmlich Frankreich und Deutschland arbeiteten auf eine Delegation von Souveränität an die europäischen Institutionen hin, also letztlich auf eine Auflösung der Nationen. Völlig gegenteilig habe man Europa im Osten verstanden. „Im Westen wurde das Verschwinden des Eisernen Vorhangs vor allem als Sieg des Liberalismus gesehen, als das ,Ende der Geschichte‘.

Für viele Europäer im ehemaligen Ostblock, vor allem Polen und Ungarn, war der Zusammenbruch des Sowjetimperiums jedoch in erster Linie ein nationalistisches Fest.“ Europa war also nicht das Ziel dieser Staaten, sondern ein Fluchtweg aus der Hegemonie Russlands und der schnellste Weg zur Feier des Eigenen – oder auch nur deren Finanzierung. Die Union hat das nicht erkannt, sie war sich ihrer Sache zu sicher.

Mak ist nicht gerade ein Putin-Versteher

Zugleich naiv und gefährlich habe sich die EU in der Ukrainekrise seit 2013 verhalten, als sie ihr Assoziierungsabkommen mit Kiew vorantrieb. Brüssel sei es nur darum gegangen, eine Art behördliches Verfahren durchzuführen und Punkte auf einer Checkliste abzuhaken. „Dass es auch um politische, ja bedeutende geostrategische Interessen ging, erkannte man in dieser Welt der Regeln und Vereinbarungen immer noch nicht.“

Mak steht nicht im Verdacht, ein Putin-Versteher zu sein, dessen Russland bezeichnet er als „eine Art moderner Zarismus kombiniert mit westlichen Formen und Verführungstechniken und einer neuen Version des KGB im Zentrum der Macht“. Für den blutigen Aufstand auf dem Maidan, den Bürgerkrieg in der Ostukraine und die Krimbesetzung darf er gleichwohl dem Westen eine Mitschuld zuweisen.

Er fürchtet sogar, der Konflikt mit Russland könnte sich zu einem globalen Flächenbrand ausweiten. „Es würde mich nicht wundern, wenn unsere Geschichtsstudentin im Jahr 2069 den Umgang des Westens mit dem erschöpften, besiegten Russland in den 1990er Jahren und danach mit der Demütigung Deutschlands in den Jahren nach 1918 vergleichen würde“, raunt Mak – früher Enthusiast, heute Apokalyptiker.

Ein Hoffnungsschimmer trotz aller Düsternis

„Große Erwartungen“ erschien letztes Jahr im Original. Die deutsche Ausgabe schließt nun mit einem Corona-Kapitel, in dem Mak sich ganz seinen Ahnungen ergibt und das Ende von bürgerlicher Kultur, Aufklärung und Demokratie prognostiziert. Man sollte dies allerdings nicht allzu ernst nehmen. Denn das Buch selbst ist ein Hoffnungsschimmer, ein Zeugnis, dass Europa noch lange nicht am Ende seiner Geschichte angelangt sein muss.

Mak selbst merkt an, dass sich stärker als je zuvor eine paneuropäische Diskussionskultur entwickelt hat. Wahlergebnisse und Debatten benachbarter Staaten werden aufmerksam verfolgt, immer mehr Menschen leben in einem anderen europäischen Land, und sei es auch nur, weil die Wirtschaft zu Hause darniederliegt. So hat sich erstmals eine Art europäische Öffentlichkeit entwickelt, in der Debatten nicht nur auf Regierungsebene ganz selbstverständlich über Grenzen hinweg geführt werden. Dieser Öffentlichkeit liefert Maks Buch vielleicht sogar Anregungen für eine Neuerfindung der europäischen Idee.

Geert Mak: Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Siedler Verlag, München 2020. 640 S., 34,99 €.

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