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Verlorene Bibliothek. Rachel Whitereads Wiener Holocaust-Mahnmal .

©  Belvedere, Wien

Rachel Whiteread Retrospektive: Die Fülle in der Leere

Wo einst die Synagoge stand: Das Wiener Belvedere 21 zeigt die Abgussformen der britischen Bildhauerin Rachel Whiteread.

Ihre größte Arbeit steht in Wien: das Holocaust-Mahnmal auf dem Judenplatz – der tatsächlich so heißt. Da lag es nahe, die Retrospektive, die ihr die Londoner Tate Gallery ausgerichtet hat, nach Wien zu übernehmen. Im Belvedere 21 – dem „Zwanzigerhaus“ seligen Angedenkens in der Nähe des Hauptbahnhofs – ist jetzt die titellose Ausstellung zum Werk von Rachel Whiteread zu sehen.

Dem Wiener Publikum muss man also Whitereads Arbeitsweise nicht mehr erklären. Sie stellt Abgüsse realer Objekte her, aber nicht als Kopie, sondern als Negativform. Was nicht (physisch) ist, die Außenseite des Objekts, wird so zur Skulptur. Das kann im Einzelfall einem herkömmlichen Abguss nahekommen, etwa wenn sie eine Serie von Wärmflaschenabgüssen erstellt:  Die Innenseite dieser weichen, formbaren Objekte sieht dann aus wie eben eine Wärmflasche in anderem Material, bei Whiteread ist das meist Beton.

1993 hat die damals 30-jährige Künstlerin mit dem Negativ-Abguss eines Abrisshauses im Londoner Osten Furore gemacht. Es handelte sich um ein einzelnes, durch den Abriss der umliegenden Bebauung bereits frei stehendes Haus, das als Letztes einem geplanten Neubauvorhaben weichen sollte, Stichwort „Gentrifizierung“. Mit dem letzten Mieter konnte Whiteread eine „Letztnutzung“ vereinbaren – den Abguss der Außenform, den sie dann anstelle des Hauses als Denkmal seiner selbst errichtete. Nur drei Monate lang war das Betongebilde zu sehen. Es trug ihr – als erster Künstlerin – den renommierten Turner-Preis ein.

Eine nach außen gestülpte Bibliothek

Seither ist Rachel Whiteread beständige Teilnehmerin internationaler Ausstellungen. Ihre Interventionen im öffentlichen Raum erregten naturgemäß die größte Aufmerksamkeit. Da war der ominöse „Vierte Sockel“ am Trafalgar Square in London, der einzige, der nie das vorgesehene Reiterstandbild aufgesetzt bekommen hat und seit Jahren für eine jährlich wechselnde, skulpturale Arbeit genutzt wird. Whiteread machte es auf ihre lakonische Art: Sie formte den Sockel ab und stellte dessen Negativform überkopf auf den Sockel, der sich so verdoppelte.

Das Wiener Mahnmal erfuhr die größte Aufmerksamkeit. Die Stadt und ganz Österreich mussten sich erst mit dem Gedanken vertraut machen, an das so lange verdrängte Schicksal ihrer 65 000 Mitbürger zu erinnern, die, nachdem sie im März 1938 mit einem Schlag rechtlos geworden waren, in der NS-Mordmaschinerie ihr Leben verloren. Als dann bei den Gründungsarbeiten für das Mahnmal auch noch die Reste einer beim Pogrom von 1421 zerstörten Synagoge zutage traten, die dann in einem aufwendigen Vorhaben erhalten und in den Mahnmalskomplex integriert wurden, stand nicht die Berechtigung, sondern die Notwendigkeit des Mahnmals jedermann vor Augen. Whiteread wählte eine nach außen gestülpte Bibliothek, die Negativform der Bücher – aber eben nicht der Buchrücken –, wie sie der Nutzer einer Bibliothek niemals zu Gesicht bekommt. Mit dem Buchrücken nach außen scheinen sie Rücken an Rücken gemeinsam dem Innenraum zugewandt, zu dem der Zutritt versperrt bleibt, wie es in der Broschüre heißt, die anstelle einer Beschriftung zur Ausstellung aufliegt.

Das Fehlen der Schrifttäfelchen mag unwichtig erscheinen; es trägt jedoch zum minimalistischen Charakter der Ausstellung bei. Man muss nicht wissen, welche Objekte Whiteread im Einzelnen abgeformt hat. Die Materialien Beton, Gips, Gummi oder Pappmaschee zeigen sich selbst. Man muss auch den sehr persönlichen Zugang nicht kennen, den die Künstlerin zu ihren jeweiligen Objekten fand, ehe sie sie abformte. Dass die weißen Schachteln, die scheinbar zufällig aufgestapelt stehen, im Original die Hinterlassenschaft der verstorbenen Mutter bargen, ist ein narratives Element, das Whitereads Arbeit in ihrer Eigenschaft als Kunstwerk äußerlich, ja gleichgültig ist.

Großartiges Spiel mit Form und Formbarkeit

Was sie sichtbar macht, ist die Leere. Der leere Raum, der außerhalb eines Hauses, einer Bücherwand, einer Kiste liegt, außerhalb einer Wärmflasche sogar dann, wenn er zufällig innen ist. Es sind zwar „Formen, die eine menschliche Existenz bezeugen“ – so die Broschüre –, was durch die Gebrauchsspuren noch betont wird. Insofern liegt hier ein Unterschied zur Minimal Art, die sich gerade der (zumeist) industriell hergestellten Gleichförmigkeit ihrer Gegenstände – Bodenplatten, Leuchtröhren, Metallkästen – bedient. Doch es hieße, den Charakter von Rachel Whitereads Arbeiten als Skulpturen zu verkennen, ließe man sich auf dieses erzählerische, ja anekdotische Moment ein, jedenfalls mehr, als zur Erklärung der Form und ihres Zustandekommens vonnöten ist.

Im Belvedere 21 lässt sich die Ausstellung auch von der Galerie im Obergeschoss aus überblicken. Die räumliche Distanz tut gut. So sind die Kästen, die Hohlräume, die hart und fassbar gemachten Abstände, die zu Form geronnene Luft – wenn man so will – eben als ein großartiges Spiel mit der Form und also der Formbarkeit zu begreifen. Mit der Arbeit des Bildhauers. Sie entsteht im Kopf, bevor sie Objekt wird. Die 25 „Spaces“ aus Kunstharz, die im Vorraum des Ausstellungssaales stehen, mögen von ihrer Entstehung her Hohlräume unter Stühlen gewesen sein. Jetzt sind sie Schöpfungen der Künstlerin.

Wien, Belvedere 21, Arsenalstr. 1 , bis 29. J7.; Katalog (Hirmer) 36 €.

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