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Was machen wir heute?: Die Flügel heben

Wie eine West-Berlinerin die Stadt erleben kann

Ich war jung und brauchte das Geld, und so steckte ich mir die Locken hoch, stieg in ein weißes Rüschenkleid und verdingte mich als Weihnachtsengel. Fast zehn Jahre ist es nun her, dass ich am Heiligabend mit einem Freund Kinder in Berlin bescherte, er war der Weihnachtsmann, ich der Engel, unser Arbeitsgebiet: Berlin-Zehlendorf, unsere Auftraggeber: 13 Familien. „Unser Sohn soll Ihnen etwas auf der Flöte vorspielen“, hatte eine Mutter uns bei der telefonischen Vorbesprechung gesagt, eine andere, etwas extravaganter: „Bitten Sie unsere Tochter, Tiergeräusche zu imitieren“. In Garagen und hinter Mülltonnen hatten sie die Geschenke deponiert, die wir verteilen sollten, ich hatte den schwebenden Gang, der Freund, der den Weihnachtsmann gab, die tiefe Tonlage geübt, gemeinsam hatten wir uns die schnellste Route überlegt, denn der Zeitplan war eng, Bescherungs-Prime-Time ist zwischen fünf und acht Uhr abends.

Selten war ich so aufgeregt vor einem Arbeitseinsatz, auf dem Weg sagte ich noch einmal die Texte aller Weihnachtslieder auf, die ich in den Tagen zuvor auswendig gelernt hatte, und dann gleich bei der ersten Familie die Enttäuschung: Inständig bat der Junge um ein Foto mit dem Weihnachtsmann, „Soll der Engel auch mit drauf?“, fragte die Oma – und der Junge schüttelte den Kopf.

Der Engel genießt wenig Ansehen, das sollte ich lernen, interessiert waren nur die Mädchen, dafür auch misstrauisch: „Schau, Mama, der Engel hat die gleichen Schuhe wie ich“, sagte eines und deutete auf meine Schuhe – dummerweise weiße Balletschläppchen in Ermangelung anderer weißer Schuhe in meinem Kleiderschrank. Vielleicht wollte mich das Mädchen also testen, als sie mich ein wenig später fragte, ob ich mal eine Runde in ihrem Wohnzimmer fliegen könne. Dass sie mir die Mär von der Flügelstauchung abkaufte, dafür bin ich immer noch dankbar.

Weihnachtsmänner und Engel kann man alle Jahre wieder bei der studentischen Arbeitsvermittlung der FU buchen. Telefon: 843 122 22

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