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Kultur: Die Erde ist ein Ballon

Magisch: der Film-Essay „¡Vivan las Antipodas!“.

Die andere Seite der Welt fasziniert Forscher, Reisende und Geschichtenerzähler, seit die Vorstellung von der Kugelgestalt unseres Planeten die Köpfe beschäftigt. Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ etwa belustigte sich über die Vorstellung, ganz durch die Erde hindurchzufallen und auf der anderen Seite Leute zu treffen, die auf dem Kopf gehen. Doch den Antipoden, den genau gegenüberliegenden Punkt auf der Erdkugel zu finden, ist ein schwieriges Unterfangen.

Immerhin vier Antipoden-Paare von eigentümlich auratischer Magie hat der Regisseur und Kameramann Victor Kossakovsky in seinem Dokumentar-Essay „¡Vivan las Antipodas!“ miteinander verknüpft. Zwei Jahre widmete er der Erkundung von Koordinaten, die den Zauber der Einzigartigkeit eines in sich ruhenden Genius loci bewahren. Von einer abgelegenen Region in Argentinien reiste er nach Schanghai. Vom chilenischen Bergland Patagonien an den russischen Baikalsee. Von Kubu, einem botswanischen Dorf, nach Hawaii, wo dessen Gegenpol Big Island allmählich von Lavaströmen begraben wird. Und vom spanischen Nationalpark Miraflores zum Strand von Castle Point in Neuseeland.

Victor Kossakovsky, in St. Petersburg geboren und seit 20 Jahren in Berlin ansässig, ist ein begnadeter Bild-Erfinder und -Schöpfer. In den acht Episoden beobachtet er aus respektvoller Distanz den Alltag von Menschen, die an ihren Orten verwurzelt sind und statt mit Google- Earth-Berechnungen mit Wind und Wetter und dem Zusammenleben mit den Tieren beschäftigt sind.

„¡Vivan las Antipodas!“ sucht die Wunder des Lebens dort, wo die Berührungspunkte zur Natur spürbar sind. Den Fluss der Zeit macht der Film in opulenten Breitwandbildern und einer geduldigen Rhythmisierung der Zeit zum großen Kinoerlebnis. In Argentinien schaut Victor Kossakovsky zwei Brüdern zu, die an einer Flussbrücke Maut erheben und sich die Zeit mit kauzigen Sprüchen vertreiben. In Chile besucht er einen Einsiedler, der mit Katzen und Hunden zusammenlebt und mit den Kondoren spricht. Am Baikalsee unterhalten sich Mutter und Tochter beim Beerenpflücken über die erste Liebe.

Ob Kossakovsky die Sorge botswanischer Dörfler vor einer anrückenden Elefantenherde schildert, das Drama eines Hundes, der im Lavastrom auf Big Island verloren geht, oder die hilflosen Aktionen neuseeländischer Helfer angesichts eines gestrandeten Wals – stets bewahren die Episoden den Reiz, Zeuge der Entdeckung von nie Gesehenem zu sein.

In Schanghai dann macht Kossakovsky ernst mit dem Kino, das die Welt auf den Kopf stellt. Am Antipodenort zum beschaulichen argentinischen Flussufer rasen die Autos über mehrspurige Autobahnen – kopfabwärts am oberen Bildrand. Immer wieder verführt „¡Vivan las Antipodas!“ zu solch abgründigen Kipp-Spielen, dreht die Bildachsen, spiegelt die Antipoden ineinander. Alice im Wunderland hätte es gefallen. Claudia Lenssen

Babylon Mitte, Eiszeit, Hackesche Höfe, Krokodil, Sputnik, Zukunft

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