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Kam mit 19 Jahren nach Berlin. Die im westungarischen Sopron geborene Schriftstellerin Terézia Mora.

© Uwe Anspach/dpa

Georg-Büchner-Preis 2018: Die Dämonologin

Unter Heimatlosen: Die Berliner Schriftstellerin Terézia Mora erhält den Georg-Büchner-Preis.

Von Gregor Dotzauer

Im Jahr 2013, kurz bevor sie für ihren Roman „Das Ungeheuer“ den Deutschen Buchpreis erhielt, beteiligte sich Terézia Mora in dieser Zeitung an einer Umfrage zu ihren zehn Lieblingswörtern. Angelehnt an die Liste, die Albert Camus einst in seinen Tagebüchern skizziert hatte, nannte sie: „Der Tag, die Nacht, die Bäume, der Wald, das Nichts, die Straße, der Staub, die Schienen, die Dächer, das Licht.“ In der Begleitmail erklärte sie: „Ich habe erst überprüft, ob etwas Anderes herauskommt, wenn ich es auf Ungarisch denke.“ Und dann mit einem Smiley: „Es ist nichts Anderes herausgekommen!“ Da hatte sich für einen Moment jene sprachliche Irritation eingeschlichen, die für sie, die von Anfang an mit beiden Sprachen aufwuchs, eigentlich keine ist – und doch jenen unmerklichen Spalt bildet, der für sie zumindest den Blick auf das literarische Schreiben und Sprechen öffnet.

Man muss sich Terézia Mora, 1971 im westungarischen Sopron an der Grenze zu Österreich geboren und im benachbarten Dorf Petöháza aufgewachsen, als eine Schriftstellerin vorstellen, die Wörter einmal in die linke und einmal in die rechte Hand nimmt, mit abwechselnd zugekniffenen Augen mustert und daraus ihr Gespür für das Gewicht von Sätzen gewinnt. Es leuchtet von daher ein, dass sie die Präzision ihres eigenen Schreibens früh auch im Übersetzen schulte. Ohne sie hätten weder Péter Esterházys ausufernder Familienroman „Harmonia Caelestis“ noch István Örkénys absurde „Minutennovellen“ aus den affixüberwucherten Sprachschlingen des Ungarischen in ein leuchtendes Deutsch gefunden.

Die junge Theaterwissenschaftlerin und Hungarologin, die an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin ein Drehbuchstudium begonnen hatte, betrat die deutsche Literatur mit Aplomb. 1997 gewann sie für ihre Erzählung „Durst“ den Open-Mike-Wettbewerb der Berliner Literaturwerkstatt. 1999 siegte sie mit „Der Fall Ophelia" im Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb. Beide Geschichten fanden sich in ihrem im selben Jahr erschienenen Debütband „Seltsame Materie“. In einer knappen, hochexpressiven Sprache erzählt er, ohne unmittelbar autobiografisches Material zu bemühen, von der Trostlosigkeit ihrer Herkunftsregion. Der Eiserne Vorhang hat sich tief in die Seelen der Grenzlandbewohner gesenkt, und ihre überwiegend weiblichen Ich-Erzähler beobachten, auch an sich selbst, dass er sich mit Gewalt und Alkohol schon gar nicht beiseiteschieben lässt.

Finsternis und magisches Glitzern

Das Versprechen dieser „Seltsamen Materie“, die in ihrer Finsternis zugleich ein magisches Glitzern barg, löste ihr erster Roman „Alle Tage“ (2004) mühelos ein. Im Hin und Her von Außen- und Innensicht erzählt er von einem jungen, in zehn Sprachen akzentfrei versierten Mann namens Abel Nema, der vor einem Krieg in seiner nicht näher genannten osteuropäischen Heimat in eine deutsche Großstadt geflohen ist, aber nicht Fuß zu fassen vermag. Entwurzelt stolpert er, der schwule Sohn eines halbungarischen Vaters, durchs Leben, verjagt seinen Freund Ilia, der Abels Liebesgeständnis nicht aushält, geht um der Aufenthaltsgenehmigung willen eine Ehe mit einer Sprachwissenschaftlerin ein und wähnt sich am Ende, delirumvernebelt, wieder in seiner Heimat zurück. Ein bewusst als Passionsdrama angelegtes Stück Literatur, das dem Scheitern migrantischer Hoffnungen wie nur wenige zeitgenössische deutsche Romane einen barmherzig-unbarmherzigen Ausdruck verleiht.

Das Extreme und Schreckliche, erklärte Mora einmal im Literarischen Colloqium, sei, sofern es das Dämonische berühre, für sie stets „ein Lebensthema“ gewesen. Neun von zehn Geschichten ihres Debütbandes warten mit Toden auf. Und in „Das Ungeheuer“, dem zweiten Roman, der nach „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ den Fährnissen des heruntergekommenen IT-Spezialisten Darius Kopp folgt, entwirft sie in atemloser Prosa eine Folterszene samt chemical waterboarding: Etwas derart Drastisches wollte sie sich, wie sie in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen „Nicht sterben“ (2014) erklärte, in „Alle Tage“ sparen. Während der erste Kopp-Roman noch satirische Züge trug und ein IT-Nomadentum porträtierte, aus dem Darius verstoßen wird, geht es im zweiten um den totalen Absturz: Kopps Frau Flora, der er im ersten Teil nebenbei seine Arbeitslosigkeit gesteht, hat sich umgebracht. „Das Ungeheuer“ zeigt den Protagonisten, wie er haltlos durch die halbe Welt irrt. Jede Seite ist dabei in zwei Hälften geteilt. Auf der oberen findet Kopps Odyssee statt, die untere enthält Floras Tagebücher. Erst durch deren Lektüre verschafft er sich Aufschluss über das zusehends depressive Innere seiner Frau. Eine Doppelbelichtung, der es gelingt, beiden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Im Lauf der Jahre hat Terézia Mora für ihr Erzählen viele bedeutende Preise erhalten, vom Preis der Leipziger Buchmesse für „Alle Tage“ über den Adelbert-von-Chamisso-Preis 2010 bis zum Bremer Literaturpreis im letzten Jahr. Nun kommt am 27. Oktober mit dem Georg-Büchner-Preis die angesehenste, von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt vergebene und mit 50 000 Euro dotierte Auszeichnung hinzu. In der Begründung heißt es, Mora widme sich „Außenseitern und Heimatlosen, prekären Existenzen und Menschen auf der Suche und trifft damit schmerzlich den Nerv unserer Zeit“. Gerühmt werden „ironische Akzente, irisierende Anspielungen und analytische Schärfe“ sowie eine „eminente Gegenwärtigkeit und lebendige Sprachkunst, die Alltagsidiom und Poesie, Drastik und Zartheit vereint“.

Heftigkeit und Empfindsamkeit

Alles das bietet auch ihr jüngster Erzählungsband „Die Liebe unter Aliens“ (2016). Aus welchen Quellen sich Moras Heftigkeit und Empfindsamkeit speisen, die sie auch als zuweilen unerwartet brüsken Menschen prägen, verraten kraftvoll ihre Poetikvorlesungen. Gleichermaßen Erzählung wie poetologische Selbsterforschung, berichten sie von Moras Weg aus der stummen Niedergedrücktheit ihrer späten Jugendjahre zu einer literarischen Sprache – und später zu einer mit ihr immer wieder neu zu erringenden Form. Die Eindringlichkeit des Tons kommt nicht zuletzt daher, dass Mora als ersten Adressaten ihre kleine Tochter wählt: ein in die Sinnhaftigkeit von Geschichten vertrauendes Kind, das sich die eigenen Erlebnisse von der Mutter am liebsten noch einmal in deren Worten erzählen lässt.

Die glückliche Entscheidung der Akademie trifft nach dem Siebenbürger Sachsen Oskar Pastior (posthum 2006), dem ungarisch-britisch-deutschen Juden George Tabori (1992) und dem galizisch-deutsch-französischen Juden Manès Sperber (1975) erst zum vierten Mal einen Preisträger mit hybrider Identität. Doch in Terézia Moras Literatur spiegeln sich nicht mehr die Schatten des Zweiten Weltkriegs, sondern die aufziehenden Stürme einer neuen Weltordnung. Es wird spannend zu beobachten sein, wie sehr die Migranten und Migrantinnen unserer Zeit von ihnen zu erzählen wissen.

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