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Die Filmemacherin Ella Bergmann-Michel mit ihrem bevorzugten Arbeitsgerät, der 35mm-Kinnamo-Kamera.

© Zeughaus Kino/DHM

100 Jahre Bauhaus und Frauen: Die Chronistin der arbeitenden Bevölkerung

Soziales Engagement und Formbewusstsein: Das Zeughauskino zeigt die wenigen überlieferten Filme der Weimarer Künstlerin Ella Bergmann-Michel.

Während des Wahlkampfs zum Reichstag 1932 filmte Ella Bergmann-Michel ein letztes Mal auf den Straßen Frankfurts. Die Aufnahmen zeigen beflaggte Straßen, debattierende Menschen, Wahlplakate – den Kampf der Botschaften, Appelle und Zeichen. Eine in extrem gekippter Perspektive in den Blick genommene Litfaßsäule zeugt von Bergmann-Michels Nähe zum Konstruktivismus, wirkt hier aber weniger dynamisierend als unheilvoll und dramatisch. Und auch wenn die Bilder stumm sind, glaubt man in den Einstellungen von Hakenkreuzfahnen schon das Nazigebrüll herauszuhören. „Wahlkampf 1932 (Die letzte Wahl)“ blieb ein Fragment. Mitten in den Dreharbeiten wurde die Künstlerin verhaftet, ein Teil des Materials konfisziert.

Das filmische Werk von Ella Bergmann-Michel (1895–1971) ist schmal. Zu den Medien der an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule, dem Bauhaus-Vorläufer, ausgebildeten Künstlerin zählten Fotografie, Zeichnung und Collage, bevor zwischen 1931 und 1933 fünf kurze dokumentarische Arbeiten entstanden. Ausgehend von diesen wertvollen Dokumenten aus den letzten Jahren der Weimarer Republik, die in ihrer Verbindung von sozialem Engagement und Formbewusstsein rar sind, öffnen sich Türen zu den verschiedensten kulturpolitischen Feldern jener Zeit. So die Prämisse eines von Madeleine Bernstorff zusammengestellten Programms im Berliner Zeughauskino. „Ella Bergmann-Michel – Die Frau mit der Kinamo“ erschließt diese kontextuellen Felder zusätzlich mit Filmen aus dem Umfeld der Künstlerin, spannt Bögen zum politischen Amateurfilm, zur filmischen Beschäftigung mit dem „Neue Wohnen“ bis hin zum "Radio-Aktivismus".

Die titelgebende, von Emanuel Goldberg entwickelte Apparatur ist in der filmischen Praxis Bergmann-Michels ein wesentliches Element. Attraktiv war die kleine 35mm-Kinamo (Kin amo = „Ich liebe Bewegung“) einerseits für den Amateurmarkt, andererseits für Filmschaffende, deren Themen nach einem beweglichen Aufnahmestil verlangten. Ein Film wie „Fliegende Händler in Frankfurt am Main“ (1932) hätte anders nicht entstehen können. Er dokumentiert Erwerbslose, die auf dem Großmarkt billig Waren einkaufen, um sie auf den Straßen weiterzuverkaufen. Immer wieder müssen die informellen Händler mit ihren Handkarren, aber auch zweckentfremdeten Kinderwägen vor der Polizei die Flucht ergreifen.

Noch mit der Kurbelkamera gedreht ist der erste Film. „Wo wohnen alte Leute“ (1931), ein in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Architekten Mart Stam entstandener Dokumentarfilm über die moderne Architektur des jüdischen Altersheims der Henry-und-Emma Budge-Stiftung, geht auf Bergmann-Michels jahrelange Beschäftigung mit Fragen des sozialen Wohnens zurück. Mit ihrem Mann Robert Michel gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des Bundes „Das neue Frankfurt“ – einer Vereinigung von Architekten, Künstlerinnen und Technikern um den Stadtbaurat Ernst May, die im Umkreis der gleichnamigen Zeitschrift das Projekt einer pragmatischen, sozialreformerischen Moderne vorantrieb. „Erwerbslose kochen für Erwerbslose“ (1932) appelliert nach dem Vorbild sowjetischer Propagandafilme an die Spendenbereitschaft der arbeitenden Bevölkerung. „Alle müssen helfen!“ – „Alle!“ ruft es in großen Lettern am Ende aus dem Bild heraus. Das filmische Medium müsse unmittelbar an den „Rohstoff des Lebens“ herangehen, forderte Paul Seligman, ein Mitstreiter der Künstlerin, in einem manifestartigen Essay kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. In Bergmann-Michels Filmen findet sich dieser Anspruch auf so empathische wie künstlerisch eigenständige Weise realisiert.
Die Filmreihe "Ella Bergmann-Michel – Die Frau mit der Kinamo" läuft vom 19. bis 29. September im Berliner Zeughauskino.

Esther Buss

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