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Das sich weithin sichtbare Leucht-Logo auf dem Berliner Ensemble

© picture alliance / Jan Woitas/dp

Die Bühnen und die Coronakrise: Herr Amtsarzt, Ihr Auftritt!

Wenn die Abstandsregel zum Drama wird: Sollen die Theater jetzt wirklich ihre Produktionen uminszenieren?

Das Berliner Theatertreffen Anfang Mai fällt aus. Oder doch nicht ganz? Es soll Streaming-Gastspiele geben, dazu wollen sich die Berliner Festspiele in den nächsten Tagen äußern. Laut Senatsbeschluss vom Dienstag müssen alle Bühnen mindestens bis zum 31. Juli pausieren. Digitale Angebote finden sich in der lahmgelegten, leidenden Kulturszene jetzt zwar reichlich - die drückende Frage aber lautet: Wann wird es wieder einen halbwegs regulären Spielbetrieb geben? Wann kommen Menschen wieder zusammen, um etwas zu erleben, das nur gemeinschaftlich zu erleben ist, in vollen Häusern, mit einem Wort: live?

Mit einiger Sicherheit wird das auch im Herbst noch nicht der Fall sein. Zuschauer mit Schutzmasken, halbleere Säle, alles auf Abstand – danach sieht es aus. Und das gilt auch für die Künstler. Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, hat in dieser Zeitung einen Satz gesagt, der nachwirkt: „Wir lassen im Moment sämtliche Inszenierungen, die wir wieder aufnehmen wollen, von unseren Regieassistenten auf problematische Stellen prüfen“.

Problematisch heißt wohl: zu viel Nähe. Kein Mindestabstand von anderthalb Metern. Kussszenen! Prügeleien! Hitzige Dialoge auf Tuchfühlung! Herumbalgen, umarmen, vertraulich beieinander stehen, das wird es dann so auf der Bühne nicht mehr geben. Das Repertoire muss uminszeniert, die Schauspieler umerzogen werden. Eine wahnsinnige Vorstellung. Die Regisseure müssten diesen Corona-Variationen auch noch zustimmen.

Mal abgesehen davon, ob es überhaupt praktikabel ist, bestehende und eingespielte Inszenierungen gleichsam in die Breite zu ziehen: Was für eine ästhetische Revolution oder Restauration soll das werden? Zu erwarten wären erstaunliche Verfremdungseffekte. Bertolt Brecht dachte in seiner Theatertheorie und Praxis eher an Krankheiten wie Faschismus oder kapitalistische Auswüchse.

Darf nur noch an der Rampe deklamiert werden?

Theater stellt im Prinzip das Gegenteil von Distanzierung dar. Es definiert sich über intensive Berührung und Körperlichkeit, zumal in den performativen Mischformen. Werden demnächst nur noch Schauspieler in gehörigem Abstand an der Rampe stehen und in ein halb leeres Parkett hinunter deklamieren – so wie es im Extrem in Inszenierungen von Michael Thalheimer schon der Fall ist?

BE-Chef Reese will ja nur retten, was zu retten ist. Das wären dann, Corona-präventiv, recht strenge Aufführungen, tatsächlich Sprech-Theater – so wie man es restriktiv aus anderen Kulturen und politischen Systemen kennt.

Das Theater an der Ruhr war 1999 das erste westliche Theater, das nach der Islamischen Revolution im Iran gastierte. Roberto Ciullis Mülheimer Truppe spielte in den Jahren darauf mehrmals beim Fadjir-Festival in Teheran und machte seine Erfahrungen dort mit der Zensur. Listig ließ er sich auf das Spiel ein, inszenierte in Teheran die eine oder andere Szene um, wenn der staatliche Zensor es verlangte. Und das hing immer auch vom Klima ab, das gerade in Iran herrschte: streng oder nicht so streng.

In Teheran spricht stets der Zensor mit

Ciulli ließ seine Akteure zum Beispiel Handschuhe anziehen, weil Männerhaut nie Frauenhaut berühren darf. Bei einer Vergewaltigungsszene in Shakespeares „Titus Andronicus“ fielen junge Typen über ihr Opfer her. Daraus machte Ciulli für den Auftritt in Teheran ein Ritual: Die Vergewaltiger fingen in der „züchtigen“ Version das Mädchen mit Stricken ein, wie ein Kalb, und zerrten es über die Bühne. Die Szene war dadurch klarer, brutaler sogar.

Einschränkung macht manchmal erfinderisch. Es war ein eindrückliches Erlebnis, wie der Fuchs Ciulli mit dem klugen iranischen Zensor – der im Übrigen als eher Liberaler auf der Seite des Theaters stand – verhandelte und Lösungen fand. Es hatte etwas von einer Lubitsch-Komödie. Nur: Kann man sich Ähnliches jetzt in Berlin, Hamburg oder München vorstellen, eine Diskussion zwischen Intendanten und Regisseuren mit Vertretern vom Gesundheitsamt?

Natürlich könnte man auf die Idee kommen, nur Zwei- oder Drei-Personenstücke auf der großen Bühne zu spielen; so hat das Theater auch einmal im antiken Griechenland angefangen. Der Chor macht aber auch schon wieder Probleme: viele Sprecherinnen auf engem Raum! Oder man verteilt die Choristen im Haus, im Parkett und auf den Rängen. Hat es auch schon gegeben. Auch das Tragen von Masken führt in die Urzeit des europäischen Theaters zurück; nichts Neues unter der Schweinwerfersonne.

Erinnerungen an eine legendäre Schleef-Inszenierung

Erscheint es unter solchen Umständen überhaupt sinnvoll, den Spielbetrieb wieder aufzunehmen, mit Ab- und Anstandsregeln, reduziertem Einlass und künstlerischen Eingriffen, die Selbstzensur bedeuten? Und es gibt noch ein anderes Problem: Wie umgehen mit Ensemblemitgliedern, die zu einer Risikogruppe gehören?

Vor langer Zeit, kurz nach der Wende, spielte und inszenierte Einar Schleef Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ am BE. Es gab in dieser legendären Aufführung eine Szene mit vielen Nackten und Halbnackten, die dicht beieinander lagen, nicht unbedingt eine Orgie, aber sehr sinnlich. Sie sangen, genossen die finnische Sauna und das Saufen. So ein Theater wird es nicht mehr geben.

Aber auch schon vor der Corona-Pandemie hat sich ein Theater entwickelt, das Zeichen von Prüderie, Gefühlskälte und genereller Lusterschöpfung zeigt. Vielleicht fällt das Corona-Uminszenieren ja gar nicht so schwer.

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