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Schöne neue Welt. Tai Murray, Jonian Ilias Kadesha, James Boyd und Lily Francis im Finale von Dvoráks Streichquintett Es-Dur, aufgeführt auf der Burg Lockenhaus.

© Balazs Borocz

Sommerzeit - Festivalzeit: Die Barden vom Burgenland

Ein Besuch beim berühmtesten – und familiärsten – Kammermusikfestival der Welt im österreichischen Lockenhaus.

Sibelius unterbrach sogar seine Flitterwochen, um karelischen Barden zu lauschen. Zeitlebens sammelte er Volksweisen. Ein paar Kostproben gibt der finnische Geiger Pekka Kuusisto in seinem Ständchen für Lockenhaus. Als wäre es ein Kinderspiel, das berühmteste Kammermusikfestival der Welt zu eröffnen, postiert er sich im Altarraum der Pfarrkirche, fiedelt, zupft und pfeift, dass es nur so eine Art hat, und zwischendurch gibt er auch noch den Conférencier. Wie er selbst, so stammen auch diese Melodien aus der Provinz Uusimaa, deren Namen er genießerisch dehnt. Das bedeutet „Neuland“ – und so lautet diesmal auch das Motto des Festivals: Terra Nova! Im 35. Jahr will es Aufbrüche, Erkundungen und Landnahmen zu Gehör bringen.

Gemeinsam mit dem Pfarrer der burgenländischen Marktgemeinde hat Gidon Kremer das Festival einst ins Leben gerufen. Und von Beginn an zum Ereignis werden lassen, nicht nur als charismatischer Geiger und unermüdlicher Fürsprecher moderner Musik, sondern auch, indem er als Geheimnis-Kremer fortwährend für Überraschungen sorgte. Bis heute werden die Konzertprogramme erst im letzten Moment bekanntgegeben, nur um im allerletzten nochmals über den Haufen geworfen zu werden. Seit fünf Jahren führt der Cellist Nicolas Altstaedt diese musikalische Versuchsanstalt fort. Zehn Tage lang finden sich zwei Dutzend Interpreten wie in einem Swinger-Klub zu immer neuen und meist auch aufregenden Paarungen zusammen.

Kuusistos Einlage gibt den Ton an. Nicht nur im Rückgriff auf folkloristischen Stoff, sondern in der Art des Vortrags. Er spielt die Stücke nicht ab, er spielt auf. Frisch und freudig. Das musikantische Spielen kommt ohne Brimborium aus, ohne heroischen Virtuosenton, erst recht ohne akademische Pedanterie. Und in seiner Urform auch ohne schriftliche Fixierung. Im Verlauf des Festivals wird sich dieser Stil auch bei anderen Interpreten und bei schwierigen Stücken bewähren, etwa Ravels Sonate für Violine und Violoncello oder Bartóks erster Sonate für Violine und Klavier. Die lassen sich kaum ohne Noten spielen, doch der Gestus des „Hier und Jetzt“ und die direkte Hinwendung zur Zuhörerschaft verwandeln selbst solch schwere Brocken in Konversationsstücke im besten Sinne.

Am zweiten Tag steht Mozarts Divertimento in Es-Dur an. Mit dem Bratschisten James Boyd im Zentrum, flankiert von der Cellistin Vashti Hunter und dem Geiger Ilya Gringolts. Da geschieht Erstaunliches: Als hätten sie nicht nur das Programm, sondern überhaupt das Stück eben erst druckfrisch bekommen, teilen sie ihre Begeisterung darüber mit: Fabelhaft, was dem Jungen da alles in den Sinn gekommen ist. Als würden wir einem Hauskonzert bei Mozarts beiwohnen, einer fröhlichen Familienaufstellung, mit allerhand Tratsch auch, dabei von absoluter Souveränität. „Ich kann es aber durch Töne; ich bin ein Musikus.“

Hinterher sitzt Boyd auf dem Balkon der Burgschänke und genießt einen wahrgewordenen Traum. „Vor 30 Jahren war Lockenhaus für uns der Heilige Gral“, rekapituliert er. Damals herrschte noch keine Festivalschwemme, um so weitreichender strahlte es aus. „Die Platten waren unsere Fetische. Als ich dann in England das frühe Hagen Quartett hörte, war es endgültig um mich geschehen.“ Die Hagens kamen in Lockenhaus recht eigentlich zur Welt, und auch für Komponisten wie Schnittke, Pärt und Gubaidulina wurde es zum Ausgangspunkt ihrer internationalen Karrieren.

In Lockenhaus trifft man die Stars auf dem Markt und in der Eisdiele

Warum ausgerechnet hier – in einem Dorf am äußersten Rand des europäischen Westens? In vagem Hügelland, nicht mehr Alpen und noch nicht Balkan? Es bedurfte wohl des unvoreingenommenen Blicks des Emigranten, um die Möglichkeiten dieses Standortes zu sehen. Vergrämt vom Sowjetregime, zog Kremer gerade die Randlage an, hier konnte das Festival in beide Richtungen ausstrahlen. Prompt rostete der Eiserne Vorhang im Burgenland als erstes durch.

Inzwischen ist Boyd Stammgast in Lockenhaus. Mögen die Stars sich anderswo abschotten und in höheren Sphären schweben, hier trifft man sie am Marktplatz oder in der Eisdiele. Und regelmäßig im Konzert, wenn sie selbst mal nicht dran sind. Wie Kuusisto pflegt auch Boyd einen ausgesprochen kommunikativen Vortragsstil. Seine Mutter spielte Klavier in einer Music Hall – was durchaus ein Vorbild sein kann, wenn man das Publikum zumindest innerlich tanzen und singen machen will.

Am Abend steht ein Konzert auf der Burg an, hoch über den Niederungen der Welt. Eine waschechte Ritterburg, thront sie als barsches Geviert auf dem Hügel, abweisend gegenüber den Menschen, aber höchst einladend für Fledermäuse und Gespenster. Wo man sonst mit Grusel-Dinnern und Dracula-Packages aufwartet, erklingt jetzt feinste Kammermusik. Bei größeren Ensembles stößt das muntere Zusammenwürfeln der Solisten freilich an seine Grenzen. Dvoráks zweites Streichquintett etwa wirkt führungslos, die Musiker spielen nebeneinander statt ineinander und werden vom eigenen Schwung mehrfach aus der Kurve getragen.

Gerade weil es eines seiner Paradestücke aus der Neuen Welt darstellt, beschwört es mitteleuropäische Heimatklänge. In Lockenhaus erscheinen sie wohlig vertraut; die ganze Region ist mit Musik gesättigt. Drunten in Raiding etwa kam Liszt zur Welt. Mal hieß er Franz, mal hieß er Ferencz, ein echtes Kind des damaligen Deutsch-Westungarn. Nebenan schuf Joseph Haydn aus einem Lied der kroatischen Minderheit eine Multinationalhymne. Solchen Entwicklungswegen von der Volks- zur Kunstmusik oder auch zur Propaganda kann man beim Festival ebenso nachlauschen wie den umgekehrten Prozessen, etwa der Demontage patriotischen Liedguts bei Ives oder Kagel.

Verausgabung als ästhetische Kategorie - die Musiker leisten ein herkulisches Pensum

Zu den Lokalmatadoren zählt auch eine Entdeckung wie Sándor Veress, einst Bartóks Assistent und wie er ein Vertreter der großen ungarischen Schule der Musikethnologie. Sein Streichtrio hat Nicolas Altstaedt sich gewünscht, der auch als Solist ein herkulisches Pensum absolviert. Verausgabung als ästhetische Kategorie – auch hierin hat er Gidon Kremer beerbt, der einst beim Casting an der Berliner Hochschule für Musik auf ihn aufmerksam wurde. „Auf dem Podium lade ich mich wieder auf; da bin ich dann ganz bei mir.“ Jeden Tag bringt er sein wunderbar gesangliches und zugleich kraftvolles Cellospiel ein. Als eine weitere Säule des Festivals erweist sich Alexander Madžar am Flügel. Er beherrscht seinen Part so, dass er mit Bedacht auch mal ein paar Töne vernuschelt, nur um die folgenden Passagen um so strahlender hervortreten zu lassen. Geschmeidig und voll Temperament, spielt er nicht bloß die Noten, sondern das Stück.

Die stillen Stars des Festivals sind dessen treu ergebene Zuhörer. Nachsichtig lächelnd lassen sie für ein oder zwei Wochen ihren Alltag hinter sich, um auf Klangkur nach Bad Lockenhaus zu fahren. Sie lesen „NZZ“ oder „Le Monde“, sind wohlvertraut mit den Werken und Interpreten und allzeit hungrig nach Ungehörtem. Viele haben noch Konzerte von vor zwanzig Jahren im Ohr. Einen Mikrokosmos dieser Gemeinde bildet das kleine Zeltdorf neben dem Fußballplatz. Wo auch zwei Kinder herumspringen, zehn und zwölf Jahre alt, die während des Festivals zur Welt gekommen sind, da ihre Mutter es sich nicht nehmen ließ, so lange wie möglich dabei zu sein. Hier wird er fassbar, der Geist von Lockenhaus, der Zuhörer wie Teilnehmer betört – mit jenem musikalischen Eros, der schon den frisch verheirateten Sibelius unwiderstehlich nach Karelien zog.

Stefan Schomann

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