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Der britische Regisseur Ken Loach bei den Filmfestspielen in Locarno 2016.

© Alexandra Wey / dpa

Regisseur Ken Loach im Interview: „Die Ausbeutung hört nicht auf"

Der britische Regisseur über prekäre Arbeit, den Brexit und seinen neuen Film „Sorry We Missed You“.

Noch ein Arbeiterfilm von Ken Loach? Aber ja. Wenn sie einem so unter die Haut gehen wie „Sorry We Missed You“ oder zuletzt „I, Daniel Blake“, für den Loach die Goldene Palme gewann, kann es gar nicht genug Sozialrealismus geben. Diesmal hat sich Loach mit Paul Laverty die knallharte „Gig Economy“ vorgenommen: Ricky (Kris Hitchen) verliert seinen Job auf dem Bau und heuert bei einem Paketzusteller an, mit immensem Leistungs- und Zeitdruck – und eigenem Lieferwagen. Den kann er nur mit noch mehr Schuldenmachen bezahlen, und indem sie das kleine Auto seiner Frau Abby (Debbie Honeywood) verkaufen. Ihre Wege als Altenpflegerin muss sie nun mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigen. Noch mehr Stress und Geldsorgen: Die vierköpfige Familie zerbricht beinahe daran.

Mr. Loach, nach „I, Daniel Blake“ sagten Sie, das sei wohl Ihr letzter Film. Was hat Sie motiviert, doch wieder zu drehen?

Weil die Ausbeutung nicht aufhört, sie hat nur andere Formen angenommen. Früher hatten die meisten Arbeiter einen halbwegs sicheren Job auf Lebenszeit, mit dem sie ihre Familie ernähren und ihr Häuschen abzahlen konnten. Das ist so gut wie verschwunden, nicht nur in der Arbeiterklasse. Da ist die Unsicherheit, nicht zu wissen, was man nächste Woche verdient. Und der Lohn ist noch niedriger als früher. Die Kombination von Unsicherheit und Niedriglohn hat verheerende Folgen für die gestressten Familien: Sie leiden unter Existenzsorgen, auch die psychischen Krankheiten nehmen zu.

Sie haben letzten Herbst in London an einem Krisengipfel zum Thema seelische Krankheiten teilgenommen.

Jeder vierte Erwachsene in Großbritannien hat psychische Probleme, und jedes achte Kind! Auch die Selbstmordrate steigt. Gleichzeitig gibt es kaum die Möglichkeit einer Therapie, man muss endlos warten. Mein Drehbuchautor Paul Laverty und ich – wir sind jetzt seit einem Vierteljahrhundert ein Team –, wir dachten, dass wir etwas über die prekären Arbeitsverhältnisse der Gegenwart erzählen müssen. Auf der Arbeit sieht man es den Leuten ja nicht unbedingt an. Sie lächeln, sie arrangieren sich. Aber wenn sie nach Hause kommen, sind sie vollkommen erschöpft. Das Lächeln verschwindet, die Energie ist weg, man wird unduldsam mit den Kindern. Es sind die Familien, die den Stress ausbaden müssen. Deshalb sollte es eine Familiengeschichte sein.

Die Arbeit des Paketkuriers Ricky und seiner Frau, der Altenpflegerin Abby, sind fast dokumentarisch festgehalten. Die Zentrale des Kurierdiensts sieht realistisch aus. Warum ist Authentizität so wichtig?

Die Leute sollen glauben, was sie sehen. Wir betrügen euch nicht, das ist der Kontrakt mit dem Publikum. Wir zeigen nur auf der Leinwand, wovon wir wissen, es ist eine angemessene Lesart der Wirklichkeit. Die Zusteller-Zentrale hat unser Szenenbildner Fergus Clegg in einer leeren Lagerhalle gestaltet und sich vom Manager eines echten Kurierdiensts beraten lassen. Wir hatten über 200 Pakete mit realen Adressen, auch die Scanner, die die Fahrer so schrecklich stressen, sind echt. Es ist eine Frage der Integrität.

Die Story soll von der wahren Geschichte des Paketzustellers Don Lane inspiriert sein, der im Weihnachtsstress starb.

Das stimmt nicht ganz, wir haben von Don Lane erst während des Drehs gehört. Ich traf die Witwe, Ruth Lane, eine wunderbare Frau, ich sagte ihr, dass Menschen wie sie uns inspirieren. Ihr Mann hatte Diabetes und musste 150 Pfund Strafe zahlen, weil er zu einem Arzttermin ging, statt Pakete auszufahren. Seine nächsten Termine versäumte er dann, er konnte es sich nicht leisten, bei der Arbeit zu fehlen. Weil er nicht mehr behandelt wurde, erlitt er einen Herzinfarkt, mit nur 53 Jahren.

Sie haben wieder in Newcastle gedreht und sagen, die Stadt sei Großbritannien als Mikrokosmos. Warum ist das so?

Newcastle war früher ein Kohlerevier, es gab Stahlwerke, auch Schiffe wurden gebaut. All die traditionsreichen Industrien, die das Herzstück des englischen Nordostens ausmachten, sind verschwunden. Jetzt hat sich dort die Gig Economy breitgemacht, die Dienstleistungen auslagert und Selbstständige ausbeutet. Wir haben auch wegen der starken Arbeiterkultur wieder in Newcastle gedreht. Die Leute sprechen Dialekt, haben ihren Stolz, ihren eigenen Wortschatz, einen spezifischen Humor, schöne alte Architektur und eine landschaftlich schöne Umgebung. Diese klare Identität und der kulturelle Reichtum sind ein großes Plus, denn es ist da und man muss es nicht für den Film konstruieren.

Sie sagen, Filmen heißt kämpfen. Was ist anders als in der Thatcher-Ära?

Die Linke verlor damals dramatisch. Eine Folge der verlorenen Schlacht sind die jetzigen prekären Arbeitsverhältnisse. Ich höre trotzdem nicht auf zu kämpfen, weil ich erzählen möchte, was Sache ist. Das motiviert mich immer wieder. Außerdem hat die heutige Linke, die Labour-Partei, ein besseres, radikaleres Programm als damals unter Tony Blair. Es geht darum, die privatisierten Energie-, Wasser- und Verkehrsbetriebe wieder zu verstaatlichen. Auch die Privatisierung des Gesundheitswesens gilt es, rückgängig zu machen.

Sie hören nicht auf, an den Sozialismus zu glauben.

Es genügt nicht, Filme über den Stand der Dinge zu drehen. Wir dürfen uns nicht darauf ausruhen, dass wir ja Künstler sind, das ist arrogant und unverantwortlich.

Sie sind 83 Jahre alt, was ist Ihr Motor als Filmemacher? Wut, wenn Sie Zeitung lesen? Empathie, wenn Sie Arbeiter treffen?

All das – und die eigentliche Arbeit. Als Journalistin mögen Sie es wahrscheinlich, mit Worten zu arbeiten, ich mag die Arbeit mit der Kamera und den Schauspielern. Es ist eine große Freude, Bilder zu finden und die Essenz einer Figur oder einer Szene herauszuarbeiten.

Szene aus "Sorry We Missed You": Seltene Pause beim Pakete-Ausfahren. Ricky (Kris Hitchen) und seine Tochter Liza Jane (Katie Proctor).

© Joss Barratt / Filmwelt

Was war denn die größte Freude beim Drehen von „Sorry We Missed You“?

Die Szene, in der die Tochter von Ricky und Abby sagt, dass sie den Schlüssel des Lieferwagens versteckt hat. Es ist der Moment, in dem die Familie wieder zusammenkommt. Ich drehe ja immer chronologisch und verrate den Schauspielern nicht, wie es weitergeht. Die Schlüssel-Sache war also das Geheimnis von mir und Katie Proctor, dem Mädchen, das die Tochter spielt. Sie hatte richtiggehend Schuldgefühle, denn die Darsteller der Eltern wussten nichts. Als dann ihr Bruder fälschlicherweise bezichtigt wird, sagte ich, jetzt solltest du es ihnen besser sagen. Man kann das nur einmal drehen, beim zweiten Take wäre es keine Überraschung mehr und die Gefühle wären nicht echt.

Spielen Sie nicht ein bisschen Gott, wenn sie solche Tricks anwenden?

Es ist ein Drahtseilakt. Die Schauspieler reagieren spontan, das kann auch schief gehen, am Ende ist es mein Risiko. Aber wenn es funktioniert, ist es umwerfend. Die Schauspieler sind immer über meine Methode informiert, das ist mir wichtig. Und ich setze sie nie Gefahren aus, weder körperlichen noch seelischen Gefahren, etwa, dass sie sich blamieren. Es ist meine moralische Verantwortung, dass ich eine geschützte Atmosphäre schaffe, in der Verletzlichkeit möglich ist. Meine andere Verantwortung ist die, dass sie ihr Bestmögliches geben können. Ohne eine kreative Atmosphäre, in der die Stimmung gut ist und auch gelacht werden kann, kann niemand sein Bestes geben.

Im Zuge der MeToo-Debatte ist viel über Macht und ihren Missbrauch in der Film- und Medienwelt ans Licht gekommen. Wie denken Sie darüber?

Alte Produzenten und andere mächtige Männer mit jungen Frauen am Arm, das ist ein Allgemeinplatz, leider. Unser Tun muss auf Respekt basieren, nur so kann man gut zusammenarbeiten. Es ist unfassbar, dass sich das nicht von selbst versteht. Wie arbeiten andere Regisseure? Wissen Sie, wir Regisseure sind die einzigen, die das nicht wissen, weil wir beim Filmemachen zwar alle möglichen Berufe treffen, aber keine anderen Regisseure.

Wie wird es Menschen wie Ricky und Abby nach dem Brexit gehen?

Prekäre Arbeit existiert überall in der EU. Zweidrittel der Jobs, die in den letzten zehn Jahren in Europa entstanden sind, sind prekär, auch deshalb, weil die EU den freien Markt befördert. Es ist nicht falsch zu sagen, lass’ uns Amazon boykottieren, wegen der desaströsen Arbeitsbedingungen und weil es die CO2-Bilanz verschlechtert, wenn alle sich ihre Einkäufe mit dem Auto liefern lassen. Aber es greift zu kurz. Wir brauchen grundlegende politische und ökonomische Veränderungen in der EU, eine andere Besteuerung, eine andere Nachhaltigkeit. Ich sympathisiere da mit dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis und seinen Ideen für ein demokratischeres, sozialeres Europa.

Sie waren immer ein linker Brexiteer.

Ich habe trotzdem für „Remain“ gestimmt und auf Reformen in der EU gehofft. Klar ist, mit einer rechten Regierung wird es nach dem Brexit noch schlimmer für die Arbeiter.

„Sorry We Missed You“ läuft in 9 Berliner Kinos. OmU: Babylon Kreuzberg, Delphi Lux, fsk am Oranienplatz, Hackesche Höfe, Kant, Kino in der Kulturbrauerei, Wolf

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