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Kultur: Deutschlands fatale Revolution

Eine Zäsur ohne Beispiel – und ohne historische Wiederkehr: zum 70. Jahrestag der „Machtergreifung“ Hitlers / Von Hans-Ulrich Wehler

Anfang November 1918 rollten alle deutschen Kronen in den Staub. Damit löste sich eine politische Ordnung, die jahrhundertelang eine Sicherheit gewährende Selbstverständlichkeit bedeutet hatte, unter dem Anprall der Revolutionsbewegung auf. Doch die neue Staatsform der Republik blieb ungeliebt. Das Ressentiment gegen die Nachkriegsordnung wurde durch den Versailler Frieden von 1919 weiter vertieft; er besaß für eine junge Großmacht demütigende Züge, im Vergleich mit dem karthagischen Frieden, den das Kaiserreich im März 1918 Russland aufgezwungen hatte, fiel er aber geradezu milde aus, vor allem ließ er das Potential für einen neuen Aufstieg intakt.

Vier Jahr später wurde das Land durch die Hyperinflation gebeutelt. Mit ihr musste der Preis für die inflationsauslösende Kriegsfinanzierung bezahlt werden. Die endlose Debatte über die „Reparationsknechtschaft“ vertieft den Groll. Und als nach einer kurzen Konjunkturphase, in der 1928 die Leistungswerte von 1913 endlich wieder erreicht wurden, die bisher schmerzhafteste Depression des westlichen Kapitalismus, die dritte Weltwirtschaftskrise seit dem Herbst 1919, Deutschland besonders hart traf, begann nicht nur eine beispiellose wirtschaftliche Talfahrt. Vielmehr brachen wegen der mehr als acht Millionen Arbeitslosen – jeder dritte Erwerbstätige war arbeitslos, statistisch gesehen in jeder Familie mindestens ein Mitglied – unerhörte soziale Spannungen auf. In einem unaufhaltsamen Erosionsprozess zerfiel das politische System, auf dessen Trümmern sich seither die totalitären Flügelparteien der NSDAP und der KPD erhoben.

Nach dem Scheitern dreier Notstandsregierungen meldete Adolf Hitler, charismatischer Tribun einer rechtsradikalen Massenbewegung und Führer der seit 1932 größten Fraktion des Reichstags, erneut seinen Machtanspruch an. Aus eigener Kraft war ihm der Vorstoß auf die Spitzenposition mit Hilfe einer absoluten Stimmenmehrheit nicht gelungen. Doch ähnlich wie bei der Etablierung des MussoliniRegimes in Italien zehn Jahre zuvor fand sich jetzt eine konservative Elitenkoalition zusammen, die Hitler im Winter 1932/1933 den Weg zur Reichskanzlerschaft ebnete. Goebbels deutete diesen Steigbügelhalterdienst dann in eine aktivistische „Machtergreifung“ um.

Tatsächlich hatte die informelle konservative Allianz mit ihrer fatalen Aktion, wie sich zwischen dem Februar 1933 und dem August 1934 herausstellte, einer modernen Despotie zum Besitz aller staatlichen Machtmittel verholfen. Von Hitler, der innerhalb weniger Wochen sein Kabinett völlig dominierte, wurden sie zielstrebig genutzt. Anderthalb Jahre nach dem Beginn seiner Kanzlerschaft vereinigte er, reichsrechtlich abgesichert, die Position des „Führers“ mit dem Amt des Reichspräsidenten und des Oberkommandierenden der Wehrmacht.

Der Reichstag als Gesangsverein

Die zentralistische Diktatur Hitlers trat an die Stelle der parlamentarischen Republik. Ein nahezu omnipotenter Charismatiker, eben noch als „böhmischer Gefreiter“ verspottet, bündelte alle Herrschaftsbefugnisse in seiner Hand, und der Reichstag war völlig entmachtet, zum – wie der Berliner Witz damals spottete – „teuersten Gesangsverein“ Deutschlands degradiert worden. Alle Parteien waren verboten oder hatten sich in der tiefen Ohnmacht des vorauseilenden Gehorsams selber aufgelöst. Die meisten Verbände waren, wie etwa die Gewerkschaften, zerschlagen oder unterworfen worden.

Reichsrechtlich wurde der Einparteienstaat zugunsten der NSDAP legalisiert – der traditionsreiche deutsche Föderalismus hatte einem rigorosen Zentralismus weichen müssen, der alle Länder und ihre Landtage aufgelöst und den Berliner Direktiven freie Bahn geschaffen hatte. So war Deutschlands politische Landschaft in einem unglaublichen Tempo verändert worden.

Der Rechtsstaat, kostbare Errungenschaft der letzten anderthalb Jahrhunderte, lag zertrümmert da. Die Bürger waren im Prinzip der Willkür der Polizei, der SS, der Sondergerichtsbarkeit preisgegeben. Die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung politischer Gegner und jüdischer Deutscher hatte auf breiter Front eingesetzt. In der „Erbgesundheits“-Politik tauchten die Umrisse einer völkischen, eugenischen Rassenpolitik auf, welche die Gesundung des arischen „Volkskörpers“ durch die „Ausmerze“ aller „Fremdkörper“ erreichen wollte.

Die alte Machtelite, eben noch in der Illusion des geschickten Dompteurs eines plebejischen Tribuns gefangen, war in abhängige Funktionseliten umgewandelt, oft in NS-Sonderorganisationen überführt oder direkt zu Parteiorganen gemacht worden. Überhaupt hatte mit dem 30. Januar 1933 ein Elitenwechsel begonnen. Denn die kollektive Blitzkarriere der „alten Kämpfer“, die zahlreichen neuen Verwaltungsstäbe mit Parteibuchpositionen und frühzeitig auch der Lenkungswille des SS-Ordens ließen die Konturen einer neuen sozialen Macht erkennen.

Im öffentlichen Leben war das NS-System dabei, sich zu einer politischen Religion aufzuschwingen. Bereits im August 1933 hat Hitler ungeschminkt gefordert, dass der Nationalsozialismus „selbst eine Kirche werden“ müsse. Diese Stilisierung förderte Goebbels’ Propagandaapparat, während Teile des kulturellen Lebens uniformiert, die beiden Kirchen gegängelt, ihre Heilsfunktionäre diskriminiert wurden.

Durch den „Führer“ war jede kollegiale Entscheidungsbildung im Kabinett beseitigt, die Gehorsamspflicht der Minister durchgesetzt und seine völlige Selbständigkeit gegenüber der Koalition des 30. Januar 1933 etabliert worden. Wie alle Charismatiker beanspruchte Hitler die Orientierung ausschließlich an seinen obersten Wertvorstellungen, ohne eine formale normative Handlungsbindung hinzunehmen. Dass viele dieser Werte – nationale Ehre etwa, nationale Geltung, nationale Stärke, völkische Auserwähltheit, Führerprinzip – von Millionen geteilt wurden, verschaffte ihm eine erstaunlich Resonanz. Die Sehnsucht so vieler Deutscher, durch einen politischen Messias, einen – wie es immer wieder hieß – „zweiten Bismarck“ aus dem Tal der Tränen: der Kriegsniederlage, der Demütigung durch Versailles, der Depression herausgeführt zu werden, schien in Erfüllung zu gehen. Mit ihrer plebiszitären Zustimmung bejubelten sie zwar ihre eigene Entmündigung. Doch der Aufbruch zu neuen Ufern, wo die Wiedergewinnung des prosperierenden nationalen Machtstaats winkte, versöhnte sie mit ihrem Freiheitsverlust.

Verkörperte diese Umwälzung die unverhüllte Konterrevolution, wie die Linke seither argumentiert? War sie nur die deutsche Variante jener allgemeinen Krise des Parlamentarismus in der Zwischenkriegszeit? Oder war sie nicht vielmehr eine neuartige, eine totalitäre Revolution?

Eben diese Deutung ist vielfach, nicht selten empört, bestritten worden. Denn in der politischen Semantik einer einflussreichen Geschichtsphilosophie sind die klassischen Revolutionen des Westens: die Englische, die Amerikanische, die Französische, auch die Industrielle Revolution als welthistorische Lokomotiven des Fortschritts auf ein höheres Entwicklungsniveau rundum positiv bewertet worden. Mit der Russischen Revolution seit 1917, der nationalsozialistischen Revolution seit 1933, der Chinesischen Revolution seit dem Zweiten Weltkrieg erscheint jedoch ein neuer Typus von Revolution im historischen Prozess: Revolutionen, die mit unsäglichen Opfern eine totalitäre Diktatur schaffen und die den Weg in die historische Sackgasse antreten.

Alles wird wirklich anders

Geht man von einigen verallgemeinerungsfähigen Revolutionskriterien aus, wird unter Revolution ein Umwälzungsprozess mit destruktiven und konstruktiven Elementen verstanden. An Zerstörung, etwa der Weimarer Republik, des Rechtsstaats, des Föderalismus, fehlte es seit 1933 in Deutschland ebenso wenig wie an konstruktiven Elementen (im Sinne der neuen Machthaber): dem Aufbau einer neuen Herrschaftsordnung, der Einrichtung von Sonderstäben zur effizienten Erreichung der Systemziele, der Etablierung neuer Rechtsnormen. Selbst die Militärführung beugte sich im Sommer 1934 Hitlers Anspruch auf Alleinherrschaft.

Ein revolutionärer Umbruch setzt, so lautet ein weiteres Kriterium, die überlieferten Ordnungsprinzipien außer Kraft. In der Tat wurde das gesamte politische System 1933/34 umgestülpt, der Führerabsolutismus, das Einparteienmonopol, die Instrumentalisierung oder Zerstörung aller autonomen Machtfaktoren durchgesetzt. Im Vergleich mit der Revolution von 1918 reichte der Einschnitt seit 1933 sogar ungleich tiefer. Erst jetzt wurden die monarchischen Eliten überall abgelöst. Im Hinblick auf soziale Herkunft, Ausbildung, Beruf, Sozialstatus und auch Lebensalter unterschied sich die junge, technokratisch-dynamische NS-Elite mit dem im Januar 1933 erst 43-jährigen Reichskanzler Hitler in jeder Hinsicht von ihren Vorgängern. Man kann sogar von einem nachgeholten sozialen Demokratisierungsschub sprechen, der sich als eine Kraftquelle des Regimes erweisen sollte.

Und schließlich gehört zur Revolution durchweg auch die Veränderung der Mentalität. Da beschwor die Führerdiktatur die Utopie einer sozialharmonischen „Volksgemeinschaft“ aller Deutschen – eine seit Jahrzehnten von rechts bis links geteilte Zielvision, die viele für eine verheißungsvolle Perspektive auf dem Weg in eine meritokratische, egalitäre Leistungsgesellschaft hielten. Nicht zuletzt gehört zur charismatischen Herrschaft auch stets eine „Gesinnungsrevolution“, die im „Dritten Reich“ insbesondere die jüngere Generation erfasste und zu einer erstaunlichen Leistungsmobilisierung geführt hat, ohne die später auch ein zweiter totaler Krieg nicht fast sechs Jahre lang durchgehalten worden wäre.

Daher lässt sich schwerlich bestreiten, dass die Umwälzung seit dem 30. Januar 1933 als totalitäre Revolution zu bezeichnen ist. Verstärkt durch die innen- und außenpolitischen Erfolge Hitlers bis 1933 hat sie die Mehrheit der Deutschen in ihren Bann geschlagen. Und die Faszination durch den Charismatiker an der Staatsspitze hat dazu geführt, dass bis zum Frühjahr 1945 die Loyalität gegenüber dem „Führer“ von dieser Mehrheit nirgendwo aufgekündigt wurde.

Das entscheidende Charakteristikum der Umwälzung seit dem 30. Januar 1933 ist daher, dass sie einer ganz außergewöhnlichen Konstellation entsprang und eine außergewöhnliche Zäsur geschaffen hat. Wegen der existentiellen Krise der Republik konnte Hitler an die Macht gelangen, seine Herrschaft über ganz Deutschland ausdehnen, die totalitäre Revolution bis zur Konsolidierung der Führerdiktatur vorantreiben. Als Konsequenz der mörderischen Utopie, ein rassereines Großreich bis zum Ural zu errichten, standen am Ende der Vernichtungskrieg im Osten und der Genozid an den europäischen Juden. Diese außergewöhnliche Konstellation kann sich nach aller historischen Erfahrung nicht wiederholen. Man sollte daher, so sehr auch Wachsamkeit gegenüber dem Rechtsradikalismus geboten ist, nicht hinter jedem Haufen von Glatzköpfen gleich eine zweite NSDAP, hinter jedem populistischen Schreihals nicht gleich einen potentiellen „Führer“ vermuten.

Auch die Kopie einer außergewöhnlichen Persönlichkeit führt, so lautete das sarkastische Urteil von Karl Marx zur Wiederkehr der Geschichte, nur zur Farce, wie das etwa der „zweite Adolf“ (von Thadden) der NPD in den 1960er Jahren bewies.

So kann und muss man aus der fatalen Geschichte der NS-Diktatur lernen. Doch sollte man ohne nervöse Sorge vor der Wiederholung einer historisch einmaligen Situation den andersartigen Gefahren der Gegenwart mit nüchterner Wachsamkeit begegnen.

Hans-Ulrich Wehler, Doyen der deutschen Historiker, lehrte Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Zuletzt veröffentlichte er im C. H. Beck Verlag, München, die Studie „Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen“.

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