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Kultur: Deutsche Bäuche

Eckard Kleßmann untersucht den Begriff Goethes von seinen Zeitgenossen – und umgekehrt

Goethe und seine lieben Deutschen“ – da fühlt man sich sofort ertappt, sitzt gerade und erwartet das Urteil des Nationaldichters, der von seiner Nation nicht viel hielt. Er machte sich lustig über ihre ständige Suche nach dem Nützlichen: „Wenn man ihnen eine Blume zeigt, so fragen sie gleich: Riecht sie? kann man Thee davon trinken? dürfen wir es nachmachen?“ Er spöttelte, weil „sie über allem schwer werden“. Barsch sagte er, sie „haben keinen Geschmack“. „Bierbäuche und Schmauchlümmel“ nennt er sie.

Aber das sind „die Deutschen“, wie Eckart Kleßmanns Buch sie im Titel führt, im Rudel-Plural. Im Singular sieht es anders aus: „Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel.“ Goethe schätzte Künstler und Wissenschaftler in Deutschland, die sich um deutsche Staaterei und Politik nicht kümmerten, er respektierte die Sprachgemeinschaft der Volkslieder, die Leser Luthers, Klopstocks und Lessings.

Klingt doch ganz versöhnlich. Kulturmenschen statt Hurra-Nationalisten. Aber heute stellt sich die Frage: Sind Menschen in Deutschland, die Französisch, Englisch oder Türkisch sprechen, für Goethe keine Deutschen? Doch. Sein Interesse gilt weniger der deutschen Sprache als der Sprache überhaupt. Er ereifert sich nicht für die Reinigung der Sprache, sondern für ihre Bereicherung. Er streitet für die Vernetzung der Weltliteratur, für Übersetzer und Reiseschriftsteller. Als „Des Knaben Wunderhorn“ erscheint, regt er eine Fortsetzung der Volksliedsammlung mit Texten aus anderen Sprachen an. Als Studenten über die Einheit Deutschlands diskutieren, wendet er sich Arabien und Persien zu.

Der „West-östliche Divan“ findet in den ersten hundert Jahren nach seiner Veröffentlichung außer Heinrich Heine und Stefan George nur eine Handvoll Leser. „Die Deutschen“ liebten ihren Goethe auch nicht mehr als er sie. Stefan George beobachtete, dass sie sich mit ihm schmücken, aber das ist keine Liebe, sondern Instrumentalisierung. Es gab eben Stolpersteine: Goethes endlose Frauengeschichten. Ausfälle gegen Juden und Katholiken. Und vor allem nahmen die Deutschen ihm übel, dass er, der in den Diensten eines deutschen Fürsten stand, der zudem noch preußischer Generalmajor war, von Napoleon eher begeistert war als von ihrem Befreiungskampf. Goethe war eben, wie Ernst Jünger formulierte, Minister, aber kein Politiker.

Welcher Politiker würde schon mitten im Terror der französischen Revolution „Reineke Fuchs“, ein Epos in 4300 Hexametern schreiben? Oder während der Napoleonischen Kriege, da Hunderttausende in Russland sterben, eine Ausstellung zum Weiterbau des Kölner Doms arrangieren? Oder eine Zeitschrift gründen, um seine „Urworte. Orphisch“ zu drucken? Goethe hatte seinen geliebten Herzog Carl August, der ihm das ermöglichte. Der zahlte ihm sogar sein Gehalt weiter, als Goethe auf unbestimmte Zeit inkognito durch Italien reiste. Carl August würdigte, dass er einen Minister hatte, der dichten konnte, und einen Dichter, der dienen konnte. Goethe diente aber nicht einem abstrakten deutschen Staat, sondern einem begabten Fürsten. Einen solchen sah er auch in Napoleon mit seinen universalen Ambitionen und seinen kultivierten Ordnungsvorstellungen. Napoleon ließ auf dem Fürstenkongress 1808 in Erfurt jeden Abend ein Theaterstück spielen. Er zeichnete Goethe mit dem Kreuz der Ehrenlegion aus. „Mein Kaiser“ nannte Goethe ihn. Mit dem französischen Ehrenzeichen empfängt Goethe 1813 den österreichischen Grafen Colloredo, der gegen Napoleon vorrückt – eine bewusste Provokation. Goethe hat nichts übrig für die Truppen der Koalition. Er hält im Angesicht kosakischer Verheerungen das Heilmittel für übler als die Krankheit. An eine deutsche „Erweckung“ glaubt er nicht: „Der Schlaf ist zu tief gewesen, als dass auch die stärkste Rüttelung so schnell zur Besinnung zurück zu führen vermöchte.“ Die Romantiker nennen ihn Fürstenknecht, nicht Dichterfürst.

Eckart Kleßmann nimmt auf Goethes (meist implizite) Definition des „Deutschen“ Rücksicht und setzt unkonventionell Akzente. Der Farbenlehre räumt er mehr Platz ein als dem „Faust“. Goethe lagen die Universalien der Natur am Herzen, aber ein Nationalepos wollte er nicht schreiben. Kleßmanns Buch ist ein zeithistorisches Panorama von wichtigen Stationen in Goethes Leben. Sein Autor, ein Historiker, ist ein routinierter Erzähler, der sich dem Anspruch des Themas stellt und es ansprechend aufbereitet. Besonders gut gelingen ihm die zahlreichen Darstellungen von Goethes Begegnungen mit Staatsmännern, Dichtern und vor allem Bildenden Künstlern. Überzeugend auch, wie Kleßmann Wandlungen von Goethes Deutschlandbild an Äußerungen über die Gotik und die Altdeutschen Maler, vor allem Dürer, festmacht. Der einleitende Überblick über die Institutionen und die Vielfalt des Heiligen Römischen Reiches ist ein historiografisches Kleinod.

Kleßmann scheut auch nicht vor Urteilen zurück. Vor allem hat er es auf Friedrich „den sogenannten Großen“ abgesehen. Manchmal wünscht man sich aber eine klarere Argumentation: Kleßmann verurteilt einerseits die Bücherverbrennung, mit der der „Turnvater und Nationalrüpel“ Jahn 1817 auf der Wartburg seine Bewegung zur nationalen Einung Deutschlands begann, aber er mokiert sich ebenso über Metternichs Konsolidierungsbemühungen, die dieser Radikalisierung entgegenwirken sollen. Hier wird, in einem ansonsten frischen und offenen Buch, zu viel vorausgesetzt. Insgesamt macht Kleßmann die Fülle von Goethes Wirken fesselnd deutlich. Es sind keine Widersprüche, wenn Goethe als Zeitungsleser gegen die Pressefreiheit wettert, als rabiater Nichtraucher dem schmauchenden Herzog dient, als Preußenfeind den Berliner Komponisten Zelter verehrt, als Gegner der Judenemanzipation von einem „Flor gebildeter Jüdinnen“ umgeben ist. Es spricht vielmehr für die erstaunliche Offenheit eines Mannes, der die „lieben Deutschen“ weiterhin anregen kann.

Eckart Kleßmann: Goethe und seine

lieben Deutschen.

Ansichten einer

schwierigen

Beziehung.

Eichborn Verlag,

Frankfurt/Main 2010.

308 Seiten, 32 €.

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