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Sankt Petersburg, März 2022. Demonstranten gegen den Krieg werden von der Polizei abtransporiert. Valentin Yegorshin/TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TS126C9A

© imago/ITAR-TASS/IMAGO/Valentin Yegorshin

Der unheimliche Alltag: Rare Notizen aus dem dissidentischen Russland  

Natalja Kljutscharjowas „Tagebuch vom Ende der Welt“ schildert die Verzweiflung unter dem Regime der Gewalt und Faktenferne.

Von Caroline Fetscher

Absurd ist so vieles im Russland der Gegenwart. Etwa die Begründung für die Festnahme eines jungen Mädchens, das im vorigen Winter die Worte „Nein zum Krieg“ in den Schnee geschrieben hatte.

Aus den Nachrichten erfuhr die Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa, was das Polizeiprotokoll dazu festhielt:  „Sie hat die Armee der Russischen Föderation diskreditiert durch Beschädigen der Schneedecke.“

Beschädigt ist im Land solcher Grotesken so vieles, vor allem der Realitätssinn. Deshalb sieht die Autorin, erst recht seit Kriegsbeginn im Februar 2022, die oberste Aufgabe von Dissidenten darin, „heil zu bleiben und Zeugen zu sein. Alles zu sehen, alles zu hören, alles festzuhalten“, möglichst ohne Verstand und Gesundheit einzubüßen.

Mutig blieb die 1981 Geborene weiter in Jaroslawl, rund 290 Kilometer nördlich von Moskau, und notierte immer hoffnungsloser ihre alltäglichen Beobachtungen. Sie sind jetzt in ihrem auf Deutsch erschienenen „Tagebuch vom Ende der Welt“ versammelt als eines der wenigen akut aktuellen Dokumente aus dem anderen Russland.

Der Text entstand im schrumpfenden Russland der Dissidenten, derer, die noch nicht ins Exil gegangen sind oder in Haftanstalten mundtot gemacht wurden. Schallarm, leise manifestiert sich da im Alltäglichen das Echo des Krieges, mit dem das Nachbarland Ukraine überzogen wird im Alltäglichen.

Alles ist aus den Fugen, notiert die Autorin, aber alle tun sorglos. Sedativa finden starken Absatz, Supermarktkundschaft hamstert unter Sprüchen gegen die Sanktionen. Protestaufrufe werden verschlüsselt versendet, latent vibriert Panik.

Kaum versammeln sich auf einem Platz ein paar Leute, tauchen Gefangenentransporter auf, Uniformierte, Polizeiautos mit Blaulicht und Drohungen per Megaphon. In der Angstfantasie der Autorin mutiert das ganze Land zur Kaserne.

Freunde werfen ihr „Heimatverrat“ vor, und obwohl sie nie Kontakte abbrechen wollte, bleibt ihr mitunter nichts anderes übrig. In Schüben überfällt sie die Scham über die eigene Ohnmacht, die Untätigkeit und die Angst.

Eine Freundin schreibt an alle, die sie in der Ukraine kennt, dass sie sich für die russische Invasion schämt und sich entschuldigt. Ein Kiewer Produzent antwortet ihr: „Valja, du bist die Einzige, die mir in dieser ganzen Zeit aus Russland geschrieben hat. Aber ich habe sehr darauf gewartet.“  

Kljutscharjowa schildet Szenen der alltäglichen Brutalität, die ins Selbstverständliche eingesickert ist, und deren eine Variante das Schweigen ist. Im Schreibkurs, den sie gibt, entstehen Texte, die auf Ängste und Alpträume deuten, aber im täglichen Umgang fällt kaum ein Wort zum Krieg. Als „wäre nichts“.

„Russland ist ein Armenhaus mit Moskau als Disney World“ befand neulich der ehemalige ARD-Korrespondent Udo Lielischkies. Diese Verhältnisse soll ein Cocktail aus Nationalismus, Ressentiments und Kriegsstimmung übertünchen. 

Im Land zu bleiben, Widerstand zu leisten, bedeutet ein enormes Risiko. Bekanntlich riskiert man Haft, selbst wenn man auf der Straße ein weißes Blatt Papier hochhält, als Signal gegen Sprach- und Sprechverbote. Natalja Kljutscharjowa ruderte am Rand des Risikos entlang, bis die Angst vor dem Zerschellen zu stark wurde.

Das Strafmaß für die Teilnahme an Kundgebungen wurde heraufgesetzt, statt 15 Tage Haft drohen inzwischen 15 Jahre Arbeitslager. Gerade wurde die russische Fernseh-Journalistin Marina Owsjannikowa zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Sie hatte im Fernsehen und auf der Straße Schilder mit Protest gegen Fake News und Putin gezeigt.  

Dass die Töchter mitbekommen, wie ihre Mutter über das Regime denkt, zeigt sich in der Schule, wo die Jüngere sagt, „heilige Engel“ würden Putin noch verjagen.

Wäre Kljutscharjowa ins Gefängnis gekommen, hätte es für ihre Töchter, neun und elf Jahre alt, die Einweisung ins Heim bedeutet. Das wollte die Dissidentin für ihre Kinder, die sie ohne den Vater großzieht, nicht riskieren.

Ihr war bewusst, dass eine Frau aus ihrer Stadt sie wegen ihrer Texte und eines Theaterstücks angezeigt hatte. Denunziert, sagt sie, wird in Russland massenhaft. Tag und Nacht rechnete sie damit, von der Polizei abgeholt zu werden. Vor allem aus Verantwortung für die Kinder ging Natalja Kljutscharjowa mithilfe eines Visums der deutschen Botschaft Moskau für gefährdete Künstler vor wenigen Wochen ins Exil.  

Kljutscharowas Töchter gehören jetzt zu den Tausenden von Kindern, die sich hier, neu angekommen, mit der Landessprache vertraut machen. Die meisten anderen sind ukrainisch, die meisten verstehen und sprechen Russisch. Aber mit Russen wollen sie meist nichts zu tun haben.   

Das „Tagebuch vom Ende der Welt“ lebt von der Intensität der Wachheit, zu der die Autorin sich selber drängt. So beklemmend es Tatsachen notiert, ist es auch, wie im Trostversuch, durchzogen von feinen literarischen Fäden.   

Dem Krieg dringt auch als Invasion in die Wahrnehmung vor. „Alles worauf mein Blick fällt, sehe ich gleichzeitig zerstört vor mir“, notiert die Autorin. Dadurch „wir auf einmal alles so schön“, denn die Zerbrechlichkeit von allem scheint auf, selbst die der grauen Wohnhochhäuser. Und im Traum sieht sie vom Balkon aus horrende Szenen, um dann zurück zu gehen in die Wohnung: „Als wäre alles wie immer.“

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Berlin, Suhrkamp, August 2023, 167 Seiten, 16 Euro

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