zum Hauptinhalt
Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main.

© dpa/Boris Roessler

"Der Souveränitätseffekt" von Joseph Vogl: Der Schulterschluss

Wirtschaft als Kulturgeschichte: Der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl erklärt in „Der Souveränitätseffekt“, wie Ökonomie und Politik eine undemokratische Allianz eingehen.

Die Politische Ökonomie hat die Illusion, dass der Staat, getrennt vom Markt, eine eigene Machtsphäre besäße, nie geteilt. Indem er für Wachstum sorgte, konnte er Steuern erheben, die seine eigene Souveränität erst fundierten. Auch als mit der staatlichen Demokratisierung entstand, was wir als Wohlfahrt kennen, musste das finanziert werden. Der politische Souverän – das Parlament und seine Regierungen – blieb auf eine Wirtschaftspolitik angewiesen, die wiederum auf das Wachstum der Märkte angewiesen war, um die wachsenden Ausgaben der öffentlichen Hand zu decken – und zwar nicht nur mit Hilfe von Steuern, sondern auch mit Hilfe von Krediten. Diesen Punkt nimmt der Berliner Kulturwissenschaftler und Germanist Joseph Vogl in seinem Buch „Der Souveränitätseffekt“ ins Visier. Staaten haben sich im Lauf ihrer Geschichte immer schon verschuldet: über Anleihen oder bei privaten Bankiers. Sein Buch, das die Gedanken seines aufsehenerregenden Essays „Das Gespenst des Kapitals“ weiterführt, ist eine profunde kleine Theoriegeschichte der Allianzen von Staat und Finanzmarkt.

Nur der Staat konnte früher Bankprivilegien vergeben und dafür sorgen, dass die Finanzmärkte blühten. Bis er selber das Papiergeldausgabemonopol übernahm und es einer Institution übertrug, die sich zum Typus der Zentralbank entwickelte. Sie erhielt die Kompetenz zur Geldschöpfung, regulierte die Geldmenge, betrieb Zinspolitik und bekämpfte die Inflation, ja sie sicherte das gesamte Bankensystem. Der entscheidende Schritt aber war die „Neutralisierung“ der Zentralbanken – ihre Unabhängigkeitserklärung von der Politik. Als Sicherungsinstanz der Finanzordnung ist sie ihrer Konzeption nach weder ein Teil des Marktes noch der Politik, sondern ein „vierter Souverän“. Das war in der klassischen Demokratietheorie mit der Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative so nicht vorgesehen.

Wir müssen neu über die Demokratie nachdenken

Die Zentralbanken operieren heute frei von jeder demokratischen Kontrolle. Sie haben zwar einen ordnungspolitischen Auftrag, aber keine kontrollierende Instanz über sich. Das Parlament hat über die Zentralbank nicht zu verfügen, auch nicht die Regierung. Die Erfahrungen zeigen aber, darauf zielt Vogl, dass sich ein Machtgeflecht von Regierungen, Zentralbanken, Finanzmärkten und Expertennetzwerken gebildet hat, das vor allem die Finanzmärkte stärkt und in Krisen sichern soll: als lenders of last resort – Kreditgeber letzter Instanz. Zins- und Inflationsregulation steht vor Beschäftigungssicherung.

Wir erleben das gerade an der europäischen Zentralbankpolitik. In der Griechenlandaffäre kommen die Milliarden den dortigen Banken zugute, um deren europäische Gläubiger zu sichern, während die Reformmaßnahmen das Wohlfahrtsniveau der Bevölkerung senken. Nun kommt eine neue Regierung, die die Volkssouveränität wiedergewinnen will, sich aber dennoch verpflichten muss, die Folgen einer korrupten oligarchischen Politik in den Vorjahren auf sich zu nehmen. Die Regierungen sind längst derart an die Finanzmärkte gekoppelt, dass wir die demokratische Souveränität verfliegen sehen. Man mag das als notwendigen „Realismus“ betrachten, aber es entlastet uns nicht davon, über die Demokratie neu nachzudenken.

In Deutschland haben wir seit 1991 höhere Staatsausgaben, als durch Steuern finanziert werden können, kurz: Staatsverschuldung. Es gibt hier keinen ökonomischen Regelungsautomatismus. Umgekehrt erleben wir seit 30 Jahren eine Öffnung der Finanz- und Kapitalmärkte (zum Beispiel waren Derivate früher verboten). Sie ist durch Gesetze demokratischer Regierungen herbeigeführt worden. Alle Regulationen, die nach der Lehman-Krise heiß diskutiert wurden, sind kaum durchgesetzt worden.

Manche Ökonomen halten eine partielle Insolvenz maroder Banken sogar für heilsam

Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main.
Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main.

© dpa/Boris Roessler

Verschuldungsabhängige Regierungen sind keine natürlichen Freunde von Reformen: Sie brauchen liquide Finanz- und Kapitalmärkte. Deshalb sind sie so eng mit der Politik verflochten. Erstens muss die Verschuldungsfähigkeit der Staaten erhalten werden, damit die Politik weiterhin Wohlfahrtsversprechen verteilen kann. Zweitens aber haben wir mit dem neuen Phänomen zu tun, dass die Finanzmärkte direkt (und über die Ratingagenturen) die Staaten und ihre Regierungspolitiken ökonomisch bewerten. Was wir als Volksentscheid oder in Form anderer zivilgesellschaftlicher Interventionen zu erörtern beginnen, ist von den Finanzmärkten funktional längst eingeführt: als eigene Form der direkten Demokratie.

Letztlich beruhen die Milliarden für marode Banken auf Krediten, die die Regierungen bei eben diesen Banken aufnehmen. Zweifellos ist es ein ordnungspolitisches Gebot, Finanz-, Geld- und Kapitalmärkte nicht zusammenbrechen zu lassen. Aber wir täuschen uns darüber, dass alles, was dort passiert, volkswirtschaftlich notwendig ist. Es gibt Ökonomen, die eine partielle Insolvenz maroder Banken sogar für heilsam halten. Bei alledem geht es aber um die Substanz einer Demokratie, der die Bürger nicht mehr vertrauen – und schon gar nicht den Politikern, die inzwischen die Entscheidungen der Politik-Finanzmarktallianzen tragen, ohne deren Mechanismen zu durchschauen. Die Ideale institutionell gefestigter Demokratie werden faktisch nicht eingehalten. Der behauptete Welfare-Effekt der Finanzmarktfreiheiten erweist sich spätestens dann als brisant, wenn wir die Souveränität der Demokratien an Instanzen übergeben, die wir nicht beherrschen. Hier entstehen monopolartige Institutionen, die alles überbieten, was Adam Smith in seiner Erfindung der modernen Ökonomie 1766 ausgemerzt wissen wollte: nämlich staatsprivilegierte Monopole. In dem Moment, in dem Zentralbanken Anleihen aufkaufen gegen das, was man ihnen ursprünglich als Aufgabe zuwies, sind sie Gläubiger und haben das Interesse, den Wert dieser Papiere zu halten.

Was tun? Eine erste Antwort findet sich in einer Umkehrung von Vogls Souveränitätsformel: Souverän ist, wer die Risiken, die die einen den anderen aufbürden wollen, an sie als eigene Gefahr zurückgibt. Wer riskant operiert, steht dafür ein. Das klingt einfach, erfordert aber ein neues Nachdenken über das Verhältnis von Demokratie und Märkten, und zwar unter den Bedingungen transnational operierender Kapitalnetzwerke. Man kann die Komplexität des Phänomens nur verstehen, wenn man es so luzide wie Joseph Vogl in seinen Ent- und Verwicklungen und Begründungsvolten nachvollzieht.

Gerade seine kulturwissenschaftliche Kompetenz öffnet den Blick auf das Jenseits rein funktionalistischer Behauptungen. Bei ihm kommen zwei Qualitäten zur Geltung, die die Ökonomie nur noch selten aufbietet: historische Methode und Kontextsensibilität. „Der Souveränitätseffekt“ ist eine Kulturgeschichte der Finanzmärkte, die zeigt, wie sich Ökonomie und Politik zu einem oligarchischen System entfalten konnten, das zwar demokratische Systeme formal nutzt, aber letztlich die Märkte die entscheidenden Konstellationen generieren lässt, auf die Politik nur noch antworten kann. Es entsteht einen neue Form der Souveränität, die sich als „parademokratische Ausnahme positioniert. Sie bindet durch Schulden und Schuldigkeit (und) passt soziale und politische Ordnungen an finanzökonomische Risikolagen an“.

„Der Souveränitätseffekt“ analysiert eine Macht, die im Kern demokratischer Wirtschaftsgesellschaften entsteht, eine Macht, von der Angela Merkel gerne behauptet, dass sie „alternativlos“ sei. Bevor wir das akzeptieren, müssen wir aber überhaupt erst verstehen, worauf wir uns eingelassen haben. Dabei leistet Joseph Vogls Buch unschätzbare Dienste.

Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt. Diaphanes, Zürich/Berlin 2015. 320 Seiten, 24,95 €. Der Autor ist Dekan der Fakultät Wirtschaftswissenschaften an der Universität Witten/Herdecke und lehrt Politische Ökonomie.

Birger P. Priddat

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false