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Der jungenhafte Björn Andrésen entsprach genau den Vorstellungen von Thomas Mann - und des Regisseurs Luchino Visconti.

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Dokumentarfilm „Der schönste Junge der Welt“: Schutzlos in der Kinomaschinerie

Luchino Visconti entdeckte Björn Andrésen für seinen „Tod in Venedig“. Ein Dokumentarfilm erzählt nun die Geschichte hinter einer vermeintlich glamourösen Jugend.

Als Luchino Visconti im Februar 1970 für seine Verfilmung von Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ einen Jugendlichen suchte, der die Rolle des Todesengels Tadzio spielen kann, fand er die Figurenbeschreibung im Text: „Welche Präzision des Gedankens, (…) ausgedrückt in diesem gestreckten und jugendlich vollkommenen Leibe!“ Jugendliche Schönheit als Gedanke, nicht als Körper, nicht als Persönlichkeit. Der Darsteller des Tadzio musste kein Schauspieler sein, sich nicht in seine Rolle vertiefen, es reichte ein Gesicht, ein paar Bewegungen, Posen.

Welche Präzision des Gedankens, ausgedrückt in diesem gestreckten und jugendlich vollkommenen Leibe!

Thomas Mann in „Der Tod in Venedig“

Der Junge, den Visconti fand, und den er im Kontext dieses Konzepts auf der Londoner Filmpremiere den „schönsten Jungen der Welt“ nannte, hieß Björn Andrésen. Der Dokumentarfilm „Der schönste Junge der Welt“ von Kristina Lindström und Kristian Petri, der nun ins Kino kommt, und in einer Kurzfassung schon beim Co-Produzenten arte lief, gibt dem Gesicht, den Bewegungen und Posen nun eine Geschichte, einen Lebenslauf, eine Psychologie.

Andrésens Kindheit und Jugend ist auf Super8-Bildern der Großmutter dokumentiert, die einen Star aus ihm machen wollte und ihn zu Castings schickte. Nicht darauf zu sehen ist die dunkle Familiengeschichte, ein unbekannter, verschwiegener Vater, eine alleinerziehende Mutter mit künstlerischen Ambitionen, die eines Tages verschwand und deren Leiche man später im Wald fand. Die Großmutter sprach nicht darüber und produzierte stattdessen Bilder eines glücklichen Jungen, den sie zu Geld machen wollte.

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In den Probeaufnahmen von Visconti legen sich die nächsten Projektionen auf den ausgestellten, halbbekleideten Körper Andrésens, über den in der dritten Person gesprochen wird: „Seine Augen haben die Farbe von Wasser, wie Mann sie beschrieben hat!“ Hier setzen Lindström und Petri einen harten Schnitt, wir sehen einen völlig verdreckten Herd in einer Stockholmer Wohnung und im Gegenlicht einen verwahrlosten älteren Mann mit wilden grauen Haaren. Andrésen heute, die wassergrauen Augen im zerknitterten Gesicht, die Vermieterin droht mit Mietkündigung und Zwangsräumung, eine Freundin kümmert sich.

Was als Einbruch des echten Lebens in die Künstlichkeit der Filmwelt lesbar wird, als Versuch, Andrésen endlich eine Geschichte und eine Stimme zu geben und aus der Projektionsfläche aussteigen zu lassen, wird spätestens dann interessant, als der Dokumentarfilm zu manipulativen Mitteln greift: überdeutliche Signale in der Musik, wie jede Szene zu lesen ist, Gänge in Zeitlupe, in denen der immer noch charismatischen Andrésen zur mythisch-suchenden Figur wird, RomCom-Inszenierungen des Paris-Urlaubs mit der neuen Freundin. Und schon am Anfang: der Gang aus der Unschärfe und dem Schwarz ins Licht, in die Klarheit der eigenen Identität.

Dass die jugendliche Schönheit, nach der Visconti-Erfahrung immer wieder neu gerahmt und kontextualisiert, als westliches Teenie-Idol in Japan, als herumgereichte Trophäe in der Pariser Schwulenszene, als genderdiffundierendes Manga-Vorbild für „Lady Oscar“, eine dunkle Seite hat, die niemanden interessierte, will uns der Film erzählen. Und über diese neue Sicht auf Andrésen generiert er auf internationalen Filmfestivals neue Aufmerksamkeit für eine recht austauschbare Geschichte.

Aber hier stehen sich, genauer betrachtet, nicht die Ausnutzung von Menschen durch die Kinomaschinerie einerseits und das ersthafte Interesse am Menschen dahinter andererseits als dokumentarische Projekte gegenüber, sondern eigentlich zwei konkurrierende Modelle des dramatischen Storytellings: das geniefixierte europäische Autorenkino à la Visconti, das aus abstrakten Ideen sinnliche Welten schafft. Und die psychologisierende und sanft moralisierende filmische Recherche, die hinter die Ideen, ins wahre Leben, schauen will und dabei oft die manipulativen ästhetischen Mittel, die sie anwendet, verschleiert. Im letzten Bild winken sich beide Andrésen-Projektionen zu.

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