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Der Soziologe und Paartherapeut Volkmar Sigusch war Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt/Main. 2016
erschien von ihm „Das Sex-ABC. Notizen eines Sexualforschers“ (Campus).

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Der Pionier : Zum Tod des Sexualwissenschaftlers Volkmar Sigusch

Er befreite die Sexualität von den Zuschreibungen des Pathologischen. Dafür musste er in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg schwer kämpfen.

Er war immer ein Grenzgänger. Geografisch, politisch und vor allem fachlich. 1940 geboren als Sohn eines Bankdirektors in Bad Freienwalde, wo er noch auf dem Traktor saß, übersprang Volkmar Sigusch, später der berühmteste Sexualwissenschaftler der Bundesrepublik, kurz vor dem Mauerbau 1961 die Grenze. Seinen Marx studierte er weiter bei Adorno, bei dem er als 21-Jähriger in Frankfurt aufschlug. Am Westen, erzählte er gerne, habe ihn sowieso nur das Kino interessiert. Wie so viele aus dem Osten.

Bei Adorno lernte er zu denken, über die Fachgrenzen hinaus. Doch dann promovierte Sigusch in Hamburg 1966 bei Hans Bürger-Prinz zum Dr. med. Der Sexualforscher Hans Giese hatte mit Bürger-Prinz die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung aufgebaut, im Mief einer verklemmten westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Aber es war dünnes Eis, auf dem Sigusch balancierte, denn die Protagonisten waren involviert in den Nationalsozialismus.

Vom Erbe des Doyens der Sexualwissenschaft, Magnus Hirschfeld, wollte man damals so wenig wissen wie von der Psychoanalyse. „Verjudete“ Disziplinen. Dennoch verdankte es ihnen der junge Mediziner, dass er habilitieren konnte.  Er arbeitete empirisch und wies 1971 nach, dass junge Arbeiter sexuell nicht so enthemmt waren wie das Vorurteil sagte.

In Zeiten des Umbruchs

Sigusch hatte das Glück, als Wissenschaftler in die Umbruchzeiten der Bundesrepublik hineingeraten zu sein. Nach Gieses Tod wurde ihm angeboten, in Frankfurt ein neues Institut für Sexualwissenschaft aufzubauen. Er war im engen Sinne kein Aktivist der 1968er-Bewegung, kein Protagonist von „Sexfront“ wie Günter Amendt, Reimut Reiche oder Martin Dannecker. Aber er zog die Leute zu sich ans Institut.

Die frühen 1970er Jahre wurden zum Höhepunkt der Karriere Siguschs, damals konnte er seinen Einfluss geltend machen auf die Sexualstrafrechtsreform von 1970, die den Homosexuellen-Paragraf 175 liberalisierte. Und er lehrte in der medizinischen und soziologischen Fakultät in einer Zeit, als Interdisziplinarität noch gar nicht auf der akademischen Agenda stand. In den 1980ern folgten die dramatischen Zerwürfnisse in der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung über den Umgang mit HIV/AIDS. 

Lange hat Sigusch sich wie seine Vorreiter darum bemüht, Sexualität aus dem Zugriff der Psychiatrie zu holen, aus den pathologischen Zuschreibungen und „Abweichungen“. Und er glaubte auch nicht an die „Bändigung“ des Sexuellen, „je befreiter die Lust, desto verdinglichter kehrt sie zurück in ihrer kommerziellen Zurichtung“, sagte er. Das hat er in seinem Buch „Neosexualitäten“ durchdekliniert.

Gegen den biologistischen Furor

Zutiefst erletzt hat ihn die Abwicklung des Instituts in Frankfurt nach seiner Emeritierung. Ein bisschen narzisstisch wie er war, hatte er es nicht hinbekommen, einen Nachwuchs aufzubauen, um das Erbe zu verteidigen. Für den „biologistischen“ Furor in der Sexualwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte hatte er nur Häme bereit. Da wiederholte sich, was schon während der Weimarer Republik in der Sexualwissenschaft virulent war: die Zerklüftung des Fachs zwischen eugenischen, sozialmedizinischen und sexualpolitischen Ansprüchen und Anliegen.

Am Ende seines Lebens hat sich Volkmar Sigusch diesem Erbe gewidmet. Seine „Geschichte der Sexualwissenschaft“ und sein ebenso umfangreiches „Personenlexikon der Sexualforschung“ werden als Standardwerke in die Annalen eingehen. Seine Bibliothek aus dem Gartenhäuschen in Frankfurt-Sachsenhausen ist inzwischen bei der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft aufbewahrt. Sicherer hoffentlich als die Bücher Hirschfelds, die 1933 auf dem Berliner Opernplatz verbrannt wurden. Am 7. Februar ist er mit 82 Jahren in Frankfurt gestorben.

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