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Kultur: Der Mensch als Pfand

Cäsar, die RAF und die Terroristen von heute: die Geiselnahme und ihre Logik der Erbarmungslosigkeit

Von Caroline Fetscher

Das Leben von Geiseln ist unbezahlbar kostbar. Alles kann man dafür verlangen. Denn für andere ist der als Pfand benutzte Mensch ein Bruder oder Vater, Schwester oder Ehefrau. Jemand, der auf eine bestimmte Weise die Brille aufsetzt, erzählt oder grüßt. Ein unverwechselbares Individuum. Für Geiselnehmer indes ist ihr Opfer nichts als ein Gegenwert. Als die Gruppe „Schwarzer September“ bei den Olympischen Spielen in München 1972 neun israelische Sportler in ihre Gewalt gebracht hatte, kommentierte die „Rote Armee Fraktion“ diese Tat kurz darauf: Mit der Geiselnahme habe das palästinensische Kommando richtungsweisend im „antiimperialistischen Kampf“ gewirkt. Man stilisierte das Verbrechen zu einem heroischen „antifaschistischen“ Akt.

Wie andere Akteure im heutigen Irak oder in Beslan in Ossetien zeigte auch die RAF weder Skrupel noch Empathie, keinen Impuls, ihr Tun historisch einzuordnen und kein Gran Unrechtsbewusstsein. Unterstützer der Tupac Amaru Guerilleros, die 1997 in der japanischen Botschaft in Peru 140 Diplomaten festhielten, um die Freilassung von Gefangenen zu erzwingen, triumphierten: „Die Geiselnahme und Besetzung bereitete den Imperialisten und ihren Kollaborateuren 125 Tage voller Furcht.“

Den wegweisenden Brief von Pjotr Kropotkin an Lenin hätten sie alle nicht verstanden. Im Dezember 1920, kurz vor seinem Tod, nahm der alte Kropotkin die Feder zur Hand, um dem „Verehrten Vladimir Illich“ zu schreiben. „Die Zeitungen melden den Entschluss der sowjetischen Regierung, dass unter den Mitgliedern der Sozialrevolutionären Partei, der Weißen Garden und der Nationalisten (...) vorsorglich Geiseln genommen werden sollen, damit diese Geiseln im Fall eines Attentatversuchs auf Funktionäre der Sowjets ,erbarmungslos ausgelöscht’ werden können.“ Verzweifelt versuchte Kropotkin, diesen „Rückfall in die schlimmsten Zeiten des Mittelalters und der Religionskriege“ zu verhindern. Entsetzt erklärte er Lenin, dass eine Geisel nicht zur Strafe festgehalten werde, sondern nur, um den Feind zu erpressen. „Verstehen die Genossen denn nicht, dass das gleichbedeutend damit ist, für die Geiseln selbst und für ihre Angehörigen, die Folter wieder einzuführen?“ Lenin legte den Brief mit dem lakonischen Vermerk „Zum Archiv“ beiseite. Für die Sache der Sowjets war alles gerechtfertigt, auch das Kalkül und die Schamlosigkeit, prophylaktische Geiselnahmen anzuordnen.

Die dafür nötige besondere Verwahrlosung des Herzens belegt auch zwei Jahrzehnte später eine Anordnung der Wehrmacht, die alles in der Geschichte bisher Dagewesene übertraf. Am 19. Mai 1941 rief die Heeresleitung zum „Kampf gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden“ auf. Hunderttausende von Zivilisten wurden als „Partisanenverdächtige und Geiseln“ ermordet.

Politische Geiselnahme als Kriegsmittel gab es schon zu Cäsars Zeiten. Siegreiche Römer verlangten routinemäßig Geiseln von den Eroberten. Bei Verhandlungen mit den Galliern oder den Briten gehörten menschliche „Pfänder“ zum gängigen Druckmittel. Im Zuge der Eroberung von Karthago erbeutete etwa Scipio Africanus der Ältere 209 vor Christus in Karthago Vorratslager, Silberminen, einen begehrten Hafen – und zahlreiche von den Karthagern festgehaltene spanische Geiseln. Dazu zählte auch eine junge Prinzessin. Dass Scipio sie alle freiließ, wie er Gefangene generell großzügig behandelte, gehörte zum diplomatischen Geschick des Eroberers. Er plante für die Zukunft und brauchte Vasallen.

Doch die erschreckenden Dimensionen des 20. Jahrhunderts erreichten weder Mittelalter noch Antike.Die aktuellen Geiselnahmen nichtstaatlicher Akteure sind Teil einer Strategie der verbrannten Erde. Ihre Absicht ist es nicht, die Gruppe, zu der die Entführten gehören, auszubeuten oder auszulöschen, wie es der Nationalsozialismus tat. Es geht auch nicht darum, anderen das eigene Dogma aufzuzwingen, wie es die Sowjetideologie wollte. Terror um des Terrors willen ist das Ziel. Als politisches „Stilmittel“ sind diese Entführer Erfinder eines neuen Markenzeichens für Desperados: des heldenhaft Verzweifelten. Nur unter einem solchem Rubrum konnte die RAF zeitweise zum Underground-Kult avancieren. Denn von Anfang an war wohl auch den dümmsten RAF-Groupies klar, dass Andreas Baader keins seiner Ziele erreichen würde. Nicht anders verhält es sich mit dem heutigen Kidnapping-Terror, der wie schon die RAF die Medien nutzt: Im Fernsehen sind Geiseln auf obszönen Snuff-Videos ihrer Henker zu sehen, im Augenblick vor der Hinrichtung.

Mit Recht fragte Richard Herzinger in der „Zeit“: „Wie lange hält eine demokratische Öffentlichkeit derartige psychische Torturen aus?“ Sie gewöhnt sich dennoch daran – wie an die Terrorszenen vom 11. September. Die krude Ästhetik der gegenwärtigen, inflationär gezeigten Geiselbilder trägt zur Dehumanisierung aller Seiten bei: der Medien, des Publikums, der Opfer und nicht zuletzt der Geiselnehmer selbst, die sich bewusst aus der Zivilisation herauskatapultieren.

Inzwischen begreifen viele islamische Kleriker, dass diese Bilder keine Reklame für Allah bedeuten. In Liverpool, der Stadt des im Irak entführten Kenneth Bigley, erklärt ein junger, britischer Mufti Kidnapping für „anti-islamisch“. Der in den USA wirkende Sheikh Muhammad Al-Mukhtar Ash-Shinqiti legt auf der Website „Islam Online“ dar, warum der Koran das Entführen und Ermorden von Zivilisten verbietet: „Eine der Verhaltensregeln für den Jihad, wie sie der Prophet betont hat, lautet: ,Bringe nicht Frauen, Kinder, Greise oder Mönche in Klöstern um. Fälle keine Bäume. (…) Töte keine Händler oder Bauern.’“

Schon der Begriff Geisel – hergeleitet aus dem keltischen „gheislo“, das heißt Bürgschaftsgefangener – unterstreicht auf inakzeptable Weise das Instrumentalisieren von Menschen. Von den Palästinensern inspiriert, entführte die RAF 1977 den ehemaligen NS-Mann und damaligen Arbeitgeberpräsidenten HannsMartin Schleyer, um den Staat damit zu erpressen. In seinem Buch „Schleyer. Eine deutsche Geschichte“ zitiert Lutz Hachmeister das Ex-RAF-Mitglied Peter Jürgen Boock: „Während wir zunehmend Mühe hatten, die Stimmungsschwankungen untereinander auszugleichen, uns nicht vor seinen Ohren lautstark anzufahren, zu unterbrechen oder zu widersprechen, blieb er in aller Regel leise und höflich. (...) Er zwang uns durch seine Antworten mit jedem Tag mehr, von unseren Vorstellungen und Vorurteilen Abschied zu nehmen, auch wenn wir das unter uns nicht zugeben konnten.“ Erstaunt begriffen die Täter, dass sie es bei ihrer Geisel mit einem Menschen zu tun hatten.

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