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Till Lindemann bei der Frankfurter Buchmesse.

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Der KiWi-Verlag, das Pornovideo und die Gedichte : Till Lindemann und das lyrische Ich

Kiepenheuer & Witsch hat sich vom Rammstein-Sänger getrennt, weil er in einem Video sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert. Dass er das in seinen Gedichten auch tut, war dem Verlag bislang egal.

Ein Kommentar von Gerrit Bartels

Bislang haben Till Lindemann, seine Band und das Rammstein-Management nicht reagiert auf die Vorwürfe von immer mehr Frauen, Lindemann habe sexuelle Übergriffe begangen. Bis auf das Statement nach dem Konzert in Vilnius, demnach man „ausschließen“ könne, dass sich im Umfeld der Band das zugetragen habe, was als erste die junge irische Frau in den sozialen Medien berichtete, schweigen sich Rammstein aus.

Die Tour geht weiter, von kommender Woche an spielt die Band hintereinander vier ausverkaufte Konzerte in München, insgesamt 240.000 Menschen wollen Rammstein dort sehen. In Berlin werden es Mitte Juli bei drei Konzerten nicht weniger sein.

Wer aber reagiert hat, das ist der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch. Er trennte sich am Freitag mit einigem Aplomb von seinem Autor Till Lindemann, von dem der Verlag zwei Gedichtbände veröffentlicht hat.

Man habe Kenntnis erlangt von einem Pornovideo, „in dem Till Lindemann sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert“ und in dem auch Lindemanns 2013 bei KiWi erschienener Gedichtband „In stillen Nächten“ eine Rolle spiele.

Das Video wurde 2020 veröffentlicht – wie die „100 Gedichte“

Das Video wurde 2020 veröffentlicht, also in dem Jahr, in dem auch Lindemanns umstrittener „100-Gedichte“-Band bei KiWi erschien, auf einer Pornobezahlseite. Der Band „In stillen Nächten“ wird in dem Video von einem Dildo durchbohrt und kommt auch anderweitig zum Einsatz.

Bei KiWi spricht man jetzt von „Vertrauensbruch“, einem „rücksichtslosen Akt“, einer „Verhöhnung“ der „von uns so eisern verteidigten Trennung zwischen dem ,lyrischen Ich’ und dem Autor/Künstler“. Erstaunlich ist, dass der Verlag erst jetzt von dem Video erfahren haben will, und dass er erst jetzt von einer „Überschreitung von uns unverrückbaren Grenzen im Umgang mit Frauen“ spricht.

Denn diese Grenzüberschreitung hätte man Lindemann schon 2020 attestieren können, als der Verlag das eine Vergewaltigungsfantasie enthaltende Gedicht „Wenn du schläfst“ mit in den eben in diesem Jahr veröffentlichten „100-Gedichte“-Band nahm.

Damals verteidigte KiWi das Gedicht mit eben jenem lyrischen Ich, rein literaturwissenschaftlich – ungeachtet der Tatsache, dass die, die sexueller Gewalt jenseits von Literatur ausgesetzt waren und sind, das im höchsten Maß verstörend finden könnten. Und ungeachtet der Tatsache, dass das lyrische Ich auch nicht mehr das ist, was es einmal war, nicht zuletzt in der Blütezeit autofiktionaler Literatur.

Misogyn sind viele der Gedichte und Songtexte von Lindemann, explizit und alles andere als ambivalent, keine lyrischen Meisterwerke, sondern eher schlicht. Auch Fantasien des Bösen haben ästhetische Fallhöhen. Verkauft haben sich die Hervorbringungen des Rammstein-Sängers sicher ganz gut, und das muss man dann im Fall von KiWi als Doppelmoral bezeichnen.

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