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Erfahrener Nahostreisender. Der Berliner Schriftsteller Michael Kleeberg.

© Arno Burgi/picture alliance/dpa

„Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ von Michael Kleeberg: Unser Osten ist euer Westen

Wuchtig und elegant: Michael Kleebergs orientalische Erzählfantasie „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“.

Im Klappentext ist von einem Roman die Rede, aber auf der Titelseite trägt „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ die Bezeichnung „Ein Divan, versammelt von Michael Kleeberg“. Das bezieht sich auf Goethes „West-östlichen Divan“, aktualisiert aber auch die alte, wohl aus dem Persischen stammende, dann im Arabischen gebräuchliche Bedeutung von Versammlung oder Zusammenkunft. In zwölf Bücher hat der Berliner Autor diesen Divan unterteilt, lehnt sich damit an die erstmals 1819 erschienene Gedichtsammlung an – und liefert Tableaus geselligen Beisammenseins.

„Allerliebste Marianne, erwache! Ei! Wach uff' und guck!“: Die beiden ersten Sätze spricht Goethe, gewendet an Marianne von Willemer, die am „Divan“ mitschrieb. So lenkt Kleeberg den Blick auf eine kleine, musizierende Gesellschaft - und auf eine Frau namens Maryam, die versunken dem Sänger lauscht. Hermann heißt er und intoniert Eric Claptons „Leyla“, die Klage der unerfüllten Liebe zur Frau seines Freundes George Harrison, die wiederum ein altes persisches Vorbild zitiert, Nizamis „Leila und Madschnun“. Die wunderschöne Leila und der schwärmerische Madschnun sind die Romeo und Julia des Orients.

Die aus Persien stammende Maryam und Hermann, ein zweiter Fürst Myschkin, ein unverfügbarer Traumtänzer aus dem pfälzischen Hauenstein, im Platt Hääschde genannt, werden wir bald erfahren, erging es wie dem orientialischen Traumpaar, nur dass sie nicht im Jenseits, sondern nach Jahren der Trennung in Mühlheim bei Frankfurt am Main zusammenkamen, an der ehedem Willemerschen Gerbermühle.

Ein virtuoses Kaleidoskop von Lebensgeschichten und Menschenwegen

So führt das Buch einerseits ein in eine gesellige Idylle, an der Menschen aus ganz unterschiedlichen Regionen beteiligt sind, darunter neben Alteingesessenen heimisch Gewordene wie Younes, ein libanesischer Pastor, der polnische Handwerker Zygmunt oder Kadmos, der arabische Lyriker. Sie alle erheben ihre Stimmen und erzählen ihre Geschichten. Sie alle sind bei Musik, Essen und Spaziergängen vereint. Doch diese Idylle, diese heile Realutopie, gründet tief in Krieg und Terror, Gewalt und Zerrissenheit unserer Zeit – und nicht nur dieser.

Kleeberg arrangiert ein virtuoses Kaleidoskop von Lebensgeschichten, Menschenwegen und -schicksalen, aus unterschiedlichsten Generationen, sozialen Lagen und geografischen Herkünften, bis in die Zeiten von Nationalsozialismus, Verfolgung und Exil, noch weiter in die der deutschen Armutsauswanderungen - und immer wieder zurück in die Gegenwart. Geschichten, die eine kalte Wut erzeugen können, wie die von Marthas Sohn, der auf die US-Liste von angeblichen Terrorunterstützern kam, weil seine Firma in Iran Wassermanagement betrieb, und in den Tod getrieben wurde.

Oder die zunächst heitere Geschichte dreier unterschiedlicher, befreundeter deutsch-libanesischer Paare in Beirut, zunehmend strapaziert durch Krieg und Terror, gerahmt durch ein Leila-und-Madschnun-Schicksal in den Abgründen des Bürgerkriegs. Es ist eines der am längsten nachwirkenden Kapitel dieses Buches, sinnlich und tiefsinnig, von sprachlicher Eleganz und Wucht zugleich. Oder die kühlen Epitaphe auf Opfer des islamistischen Terrors gegen Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris. Geschichten also nicht nur von Liebes-, Lebens- und Heimatverlust, sondern von den vielgesichtigen Rollen der westlichen und östlichen Kulturen darin, zentriert immer wieder um Religion und Musik, Poesie und Philosophie.

Dazu gehört auch Hermanns Lebensweg. Über die Musik lernt er Maryam kennen und unsterblich lieben. Immer tiefer wühlt er sich in die katholische Mystik des vormaligen Dadaisten Hugo Balls ein, bis er am Ende eine Art Gottesstaat erträumt, dessen Totalität erschreckend nahe an das reicht, was wir in Blogs von IS-Islamistinnen kennenlernen.

Er verliert seine Maryam, veranstaltet mit den Papieren der Dissertation ein Autodafé, um buchstäblich in alle Welt zu ziehen, bis er sich schließlich als Lehrer in Frankfurt fängt. Maryam folgt dem Rückruf ihrer Familie, gerät in die Mühlen der Revolution, die zunächst als Befreiung erscheint, flüchtet unter größten Strapazen vor dem Terror zurück in den Westen, bekommt einen Sohn, den sie ohne Vater aufzieht, und trifft am Ende Hermann wieder, inzwischen Lehrer ihres Sohnes Navid. Dazwischen weitere, neue, andere und am Ende doch ähnliche Geschichten zwischen Lebenspilgerschaft und -auslöschung.

Kleebergs Divan trägt auch der Vielfalt der Formen Rechnung

Dabei geht es immer wieder tief hinab; in Urzeiten und Mythen gehen die Erkundungen der Wurzeln all der Gewalt und des Fanatismus, mal in rhapsodischer Erzählung, mal in essayistischer Form. Archaische Schuld, Blutopfer und Blutsbande, Ausstoßung des Sündenbocks, Herrschaft der Furcht und der Rache - die Zirkel der Zerstörung werden in aller Ausführlichkeit beschrieben. Kleeberg sucht Antwort auf die Frage, wie das alles durchbrochen, wie ein freieres, würdigeres, humaneres Leben gelebt werden kann. Eine Blaupause dazu liefert eine grandiose Nacherzählung von John Fords Western „The Searchers“ (Der Schwarze Falke). Sie evoziert die ganze mythische Wucht des Films – der am Ende die vermeintliche Ausweglosigkeit des Zirkels von Ehre und Schande durchbricht, indem John Wayne die einst von Comanchen verschleppte Debbie in den Sattel hebt und nach Hause bringt, weder ihr Vater noch ihr Liebhaber.

Hier greift Kleeberg unter anderem auf Überlegungen von Judith Shklar, Barbara Ehrenreich, René Girard oder Walter Burkert zurück. An anderer Stelle lässt er Heinrich Mann, Carl Zuckmayer, Graham Greene und Alexander Lernet-Holenia anklingen - nicht in gespreizten Zitaten, vielmehr als eingebundene Stimmen. In dieser Vielfalt der Formen zwischen Poesie und Essay, Pamphlet und Hymne, zwischen hohem Ton und burlesker Heiterkeit, trägt Kleebergs Divan nicht nur der Vielfalt der Menschenschicksale, sondern auch der Formen Rechnung, in denen wir uns Rechenschaft darüber zu legen versuchen, "was sie wirklich ist, die Welt".

Gegen die eigenen Zweifel und Zukunftsorgen

Eines jedenfalls wird plastisch: Es ist eine Welt der unaufhebbaren wechselweisen Durchdringung von Ost und West. Eines Ostens, der westlich geprägt wurde, kolonisatorisch gewaltsam, aber auch kulturell ersehnt, der wiederum einen Westen inspiriert oder ängstigt, der selbst vom Osten geprägt wurde. Den Verschränkungen von Gewalt und Liebe, Freundschaft und Feindschaft, Krieg und Frieden, Verzweiflung und Hoffnung darin geht Kleebergs Buch mit geradezu heiligem Ernst nach.

„Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ findet seine Hoffnung jenseits der Fellachen beider Welten, jenseits der Schlagzeilen, die die Hirne vernebeln, gegen die unversöhnlichen Konfrontationen, auch gegen die eigenen Zweifel und Zukunftssorgen, in eben den Zirkeln gelebter Gemeinsamkeit, im Namen von Freundschaft und Liebe, Schönheit und Offenheit, in der Selbstkultivierung durch die Künste.

Darin ist das Buch am Ende auch heiter, wenn es etwa die Geschichte eines urdeutschen Mantels erzählt, der seinen Besitzer, einen libanesischen Dichter, auf einer Lesereise vertritt. Ein Kabinettstück an hintergründigem Humor. Es endet mit einer Aktualisierung der uralten Geschichte vom raffinierten Spurenlesen in der durch die ganze Welt gewanderten Erzählung von den drei Prinzen von Serendip. Das Grundmuster ist vielleicht noch aus Umberto Ecos „Name der Rose“ bekannt. Eine optimistische Geschichte, die zwei Prinzen und – heute als Dritte – eine Prinzessin erleben. In ihr paaren sich „Zufall und Scharfsinn, Fortuna und Klugheit“ wie in diesem anrührenden, ebenso tiefsinnigen wie unterhaltsamen, weltsorgenden wie menschenfreundlichen Kunstwerk.

Michael Kleeberg: Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan. Galiani, Berlin 2018. 454 Seiten, 24 €.

Erhard Schütz

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