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Henry Ragas, Larry Shields, Eddie Edwards, Nick LaRocca und Tony Spargo (v. l.) traten 1917 als Original Dixieland Jass Band auf.

© culture-images/Lebrecht

100 Jahre erste Jazz-Platte: Der heiße Sound des Südens

Die Original Dixieland Jass Band aus New Orleans nahm vor 100 Jahren die erste Jazz-Platte auf – der Soundtrack für turbulente Zeiten und der Beginn eines Pop-Phänomens.

Reisenweber’s Café ist „Amerikas schönster Ballroom“ – so wirbt jedenfalls der Besitzer. Auf jeden Fall ist der Komplex am New Yorker Columbus Circle im Jahre 1917 einer der größten Amüsierbetriebe: in zwölf Restaurants und einem Tanzsaal wirbeln 1000 Bedienstete umher, schleppen Teller mit dicken Steaks herbei und sorgen dafür, dass der breite Fluss von Alkohol nie versiegt.

Die Party beginnt am Nachmittag mit einem Tanz-Tee und ab Februar 1917 spielt abends eine Kapelle aus New Orleans. Sie bringt einen neuen, heißen Sound aus dem Süden mit, der seit ein paar Jahren Jass genannt wird. John Reisenweber muss ein gutes Gespür haben, als er dem Agenten Max Hart vertraut, der ihm die Original Dixieland Jass Band (ODJB) für ein Gastspiel anbietet. Das Kollektiv hat zwar – unter einem anderen Namen und in leicht anderer Besetzung – kurz zuvor in Chicago für Furore gesorgt, ist aber außerhalb seiner Heimat kaum jemandem ein Begriff. Das soll sich bald ändern: Die Band wird innerhalb von Tagen zu einer Sensation, die Nachricht von der Ekstase der Tänzerinnen und Tänzer wird rasch von der Victor Talking Machine Company vernommen.

Am 26. Februar 1917 stehen der Bandleader, es ist der Kornettist Nick LaRocca, und seine Kollegen vor einem Schalltrichter in der 38. Straße und schreiben Geschichte. Sie spielen zwei Songs: den Livery Stable Blues und den Dixieland Jass Band One- Step, die am 7. März 1917 auf einer Schellack-Platte veröffentlicht werden. Sie wird zu einem Hit. Obwohl der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg im April bald zu Engpässen bei der Versorgung mit Schellack führt, werden mehr als eine Million Exemplare verkauft.

Die neue Musik ist rau, schnell und laut

Der Sound aus New Orleans wird zum US-amerikanischen Pop-Phänomen, zum revolutionären Soundtrack für mehr als turbulente Zeiten. Die Musik ist rau, schnell und laut. Was heute ein wenig eckig, vielleicht sogar zickig klingt, ist das Ergebnis des urbanen Einflusses von Chicago und New York. Man muss sich in den riesigen Ballrooms behaupten können und den Cakewalk-Verrückten auf der Tanzfläche einheizen. Die Stadt des Nordens verändert den Jazz des Südens in wenigen Monaten. In New Orleans spielt niemand so wie LaRocca und seine Truppe. Das müssen auch die Talentscouts feststellen, die in Scharen an die Mississippi-Mündung pilgern, um weitere Kapellen zu finden, mit denen sich viel Geld verdienen lässt.

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Nick LaRocca und seine Mitmusiker sind weiß. Der Kornettist, Sohn bitterarmer Einwanderer aus Sizilien, bläst sich in späteren Jahren zum „Erfinder des Jazz“ auf, was zum einen seiner angeschlagenen Psyche geschuldet sein dürfte, zum anderen als Werberuf verstanden werden kann, zu einer Zeit, als die, vornehmlich schwarze, Konkurrenz seine Band technisch und künstlerisch abhängt. Natürlich gibt es nicht „einen“ Erfinder dieser neuen Musik, die anders als der um die Jahrhundertwende enorm populäre Ragtime, nicht in Noten fixiert wird. Der Jazz, dessen prägendste Elemente in den frühen Jahren ein swingender Blues und die Improvisation sind, ist eben auch eine Erfindung des Kollektivs, das sich gegen die brutale Segregation stellt, die auch im Schmelztiegel New Orleans das soziale und künstlerische Leben beherrscht.

Gelernt haben so gut wie alle Pioniere in der Marching Band des Schlagzeugers Papa Jack Laine, der ab 1891 mit seiner The Reliance Band zu einer bedeutenden Keimzelle für die folgende Entwicklung des Jazz wird. Laine, der als erster weißer Jazzmusiker bezeichnet wird, ignoriert die Gesetze der Segregation. Er versucht, die besten Musiker zu bekommen – unabhängig von deren Hautfarbe. Gibt es Schwierigkeiten mit den Autoritäten, behauptet er einfach, die dunkelhäutigen Männer seien Mexikaner oder Kubaner.

Kornettist Buddy Bolden war eine zentrale Figur der frühen Tage

1897 wird mit Storyville nach dem Vorbild europäischer Rotlichtviertel ein Bezirk gegründet, in dem die Prostitution – wenngleich nach wie vor verboten – so doch toleriert und organisiert wird. Die zahllosen Saloons, Bars, Bordelle und Tanzschuppen bieten vielen Musikern Arbeitsmöglichkeiten. Anfangs streng nach Hautfarben getrennt, mischen sich die Musiker hier bald und lernen voneinander. Professoren genannte Pianisten spielen Ragtime, Walzer und leichte romantische Musik.

Wann und wie aus diesem Clash der Kulturen Jazz wird, lässt sich nicht genau sagen. Die damals zentrale Figur hat keine Aufnahmen hinterlassen: Der Kornettist Buddy Bolden, 1877 in New Orleans geboren, ist ein dem Alkohol verfallener Straßenarbeiter und soll der erste gewesen sein, der eine echte Jazz-Band anführte. Seinem Spiel, von dem keine Aufnahmen, sondern nur Erzählungen künden, habe der Musik zwei wichtige Komponenten hinzugefügt, heißt es: den Blues und eine rhythmische Verschiebung, die später als Swing bezeichnet wird.

Nick LaRocca gilt zwar nicht als der technisch versierteste Spieler, aber er hat einen Vorteil: eine „starke Lippe“. Er vermag über Stunden sein Kornett mit hoher Intensität zu spielen. Der große Louis Armstrong schreibt in seiner Biografie voller Anerkennung über den weißen Kollegen und lobt explizit den Pianisten der Original Dixieland Jass Band, Henry Ragas, der spürbar Einfluss auf die frühen Bands von Armstrong hat. Außerdem stellt er noch in den vierziger Jahren fest: Den Tiger Rag spielt keiner so gut wie Nick LaRocca und seine Band.

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Der Tiger Rag ist einer von vielen Songs den die ODJB in der Folge des gigantischen Erfolges ihres Debüts aufnehmen werden und die bis heute zum Standard-Repertoire des New Orleans Jazz gehören.

Nach dem Krieg verbreitet sich die neue Musik rasend schnell über den Globus. 1919 tritt die ODJB, die immer wieder umbesetzt wird – unter anderem weil zwei Mitglieder an der Spanischen Grippe sterben – in England auf. LaRocca verfasst ein Info-Blatt für die britische Presse, das sich wie ein Teil eines situationistischen Manifestes liest: „Jazz ist Mord durch Melodie, der tödliche Angriff der Synkope. Es ist eine Revolution der Musik und ich gestehe, wir sind musikalische Anarchisten!“

Nick LaRocca hat Mitte der Zwanziger einen Nervenzusammenbruch

Tatsächlich muss diese Musik auf die unvorbereiteten Hörerinnen und Hörer anarchisch gewirkt haben. Doch sie ist enorm erfolgreich. Aber LaRocca erleidet damals bereits das Schicksal späterer Rock-Stars: Er brennt aus und erleidet Mitte der zwanziger Jahre einen Nervenzusammenbruch. Der Teenager Henry Levine ersetzt ihn. 1936 erlebt diese nun Dixieland genannte Musik ein Revival – vielleicht das erste Retro-Phänomen in der Pop-Geschichte.

LaRocca kehrt noch einmal zurück. Gegen die damals dominierenden Swing Big-Bands stellt sich der vermeintlich wahre Jazz aus dem Süden. Ganz verschwinden wird Dixieland nie. Nick LaRocca stirbt 1961, sein Sohn Jimmy führt eine Band mit dem Namen ODJB weiter. Lange als Jazz für den Frühschoppen belächelt, ist der Dixieland – oder New Orleans Jazz – heute wieder sehr lebendig: In seiner Heimat, der großen Hafenstadt am Mississippi-Delta spielen nicht mehr verwitterte Veteranen diese Musik. Es sind junge, bärtige Hipster, die den Sound von einst für sich entdeckt haben und ihn liebevoll am Leben erhalten. Die Revolution vom 7. März 1917 lebt in ihnen weiter.

Andreas Müller

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