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Menschwerdung. Am Königshaus wird der Sklave Angelo (Makita Samba) domestiziert und als „Hofmohr“ in die hohe Gesellschaft eingeführt.

© Grandfilm

Sklaven in Europa: Der Film „Angelo“ zeigt, wie der Mensch Kolonialgut wird

Markus Schleinzers Drama folgt dem Weg eines Sklaven aus Nigeria nach Europa. Er zieht vom 18. Jahrhundert aus Linien in unsere postkoloniale Gegenwart.

Etappen auf dem Weg zum Individuum: In einer kahlen Lagerhalle steht eine Gruppe schwarzer Jungen in weißen Gewändern. Eine Comtesse inspiziert die Kinder, dann bleibt sie vor einem von ihnen stehen.

„Du bist jetzt einer von uns“, bekommt der Auserwählte gesagt, angekommen am Hof der Adligen. Und noch ein wenig später: „Du bist dem Menschsein einen großen Schritt näher gekommen.“ Nachdem Markus Schleinzers „Angelo“ den ersten seiner insgesamt drei großen Zeitsprünge gemacht hat, spielt der mittlerweile zum Teenager herangewachsene Junge ein Blockflötenkonzert.

„Perfekt“, urteilt die Komtesse, „nun können wir dir nichts mehr beibringen.“

Schleinzers Film basiert auf der historischen Figur des Angelo Soliman, der im 18. Jahrhundert aus dem heutigen Nigeria als Sklave an den Wiener Hof verschleppt wurde. Nach allem, was man über ihn weiß, war Soliman der Ersatzsohn für eine um ihr leibliches Kind trauernde Gräfin, Schausteller für allerlei Hof-Amüsements, exotischer Gesellschafter für Aristokraten bis hin zu Kaiser Josef II.

Und schlussendlich auch ein anthropologisches Experiment, er sollte als Beispiel dienen für den Glanz humanistischer Erziehung, die noch das vermeintlich Unmenschliche zum Menschen machen kann.

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Doch Schleinzer ist wenig an der Historie interessiert. Hinweise auf die reale Grundlage der Geschichte fehlen, und in der Lagerhalle eingangs brennen Leuchtstoffröhren. „Angelo“ illustriert Geschichte nicht, er interpretiert sie. Nicht der historischen Wahrheit gerecht werden will dieser Film, sondern Linien in die postkoloniale Gegenwart ziehen.

Wie schon sein Debüt „Michael“ (2011) über einen pädosexuellen Gewalttäter zeichnet sich Schleinzers zweiter Film durch eine formale Strenge aus. Die tableauartigen Sequenzen, im 4:3-Format gefilmt, sind zugleich spartanisch wie opulent eingerichtet. Ihre Dauer ist für den Film wichtig, auch wenn sich zentrale Ereignisse im Off abspielen – während sich Gerald Kerkletz’ Kamera auf die Blicke der Umstehenden konzentriert.

Wenn etwas im Zentrum steht in diesen Bildern, dann sind das Projektionen: Monologe des Kaisers etwa, in denen dieser im Angesicht Angelos über seine eigene Identitätskrisen philosophiert. Oder Angelos Performances, in denen er einem wissbegierigen Publikum von Afrika „erzählt“.

Ein Schnitt unterbricht diese Sequenzen oft jäh, enthält ihnen jegliche kulturelle Autorität vor. Diese Ästhetik der Dezentrierung, die weniger erzählerisch als visuell und über die Montage Widerstand gegen die koloniale Erzählung leistet, erinnern an Lucrecia Martels historische Farce „Zama“.

Heimat als europäische Projektion

Gerade durch den genauen Blick auf die Projektionen, denen er ausgesetzt ist, bleibt der von insgesamt vier Darstellern gespielte Angelo trotz seiner fremdbestimmten Existenz eine autonome Präsenz im Film. Als er gefragt wird, ob er seine Heimat nicht vermisse, entgegnet der: „Wie heißt die Hauptstadt von Heimat?“

Denn diese Heimat ist selbst eine europäische Projektion. Später wird ein Wissenschaftler Angelo und seiner erwachsenen Tochter stolz den afrikanischen Raum seiner Ausstellung zeigen, auch wenn die Tochter Afrika nie gesehen hat.

Es gibt in „Angelo“ viele solcher Szenen, die unmittelbar in die Gegenwart führen, zu Alltagsrassismus und diasporischer Erfahrung ebenso wie zu Debatten um koloniale Güter in ethnologischen Museen. Zugespitzt wird das im brutalen letzten Abschnitt des Films, in dem Angelo postum wieder seinen Platz in der Ordnung der Dinge einnimmt: vom Menschen zum Wissensgegenstand.

Was ist das humanistische Narrativ wert?

Andererseits, und das ist ein wuchtiger Clou des Films, ist Angelo schon von Beginn des Films an tot. Die ersten Szenen des Films zeigen, wie der Auserwählte schon kurz nach seiner Ankunft in Europa stirbt, ob vor Erschöpfung von der Überfahrt oder vor Melancholie, das können die Ärzte nicht sagen.

Schleinzer schneidet zurück in die Lagerhalle, ein neuer Angelo wird ausgewählt. Das heroische individuelle Schicksal, Fluchtpunkt jedes konventionellen Biopics, ist hier nur Plan B.

Wenn „Angelo“ also die Frage aufwirft, was das humanistische Narrativ wert ist, wenn schon an seinem historischen Ursprung Gewalt, Tod und die Austauschbarkeit kolonisierter Körper stehen, dann zeigt der Film vielleicht auch eine Alternative zu den Menschenexperimenten des aufklärerischen Arthouse-Kinos auf.

Anstatt sich die Welt, in der wir leben, als einen besseren Ort vorzustellen, fragt Schleinzer lieber, nach wessen Willen und Vorstellung diese Welt entstanden ist.

Till Kadritzke

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