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Ich bin doch nur ich. Henrik Schrat bei der Arbeit in seinem Atelier in Mitte.

© Henrik Schrat

Grimms Märchen als zeitgenössisches Bilderbuch: Der Engel auf dem Plattenbau

Fünf Jahre, fünf Bücher: Künstler Henrik Schrat bebildert die Märchen der Gebrüder Grimm. Wer will, kann seine Lieben hineinzeichnen lassen.

In Berlin gibt es Ecken, die könnte kein Maler atmosphärischer illustrieren. In dieser schmalen Gasse in Mitte verschmelzen Gestern und Heute. Den Fernsehturm am Alexanderplatz verwischt der Dezembernebel. Das Kreuz auf der Domkuppel glimmt fahl.

Die Altbauzeile zur Linken und das 250 Jahre alte Bürgerpalais gegenüber könnten nach Prag gehören. Eine Gedenktafel erinnert an den Dichter Gottfried Keller, der 1854 hier gewohnt haben soll. Keller war Maler, bevor der die Schriftstellerei entdeckt. Bilder und Wörter. Sie sind das Lebenselexier des Künstlers Henrik Schrat.

Merchandising gehört zum Großprojekt

Soeben tritt er aus dem Mietshaus, in dem er wohnt, und geht die paar Schritte zum Hinterhofatelier im Nachbarhaus hinüber. Licht fällt wenig in das Berliner Zimmer im Parterre. Schadet nichts, befindet der Künstler. „Ich arbeite sowieso in Schwarzweiß."

Draußen, vor dem Fenster, liegen Holzteile, die aussehen wie Laubsägearbeiten. Henrik Schrat, meist einfach „Schrat“ genannt, spannt auch die Familie für sein Großprojekt zu Grimms Märchen ein. Seine Tochter verdiene sich ganz gerne Taschengeld damit, die Buchständer mit schwarzer Farbe zu besprühen.

Ein bisschen Merchandising-Schnickschnack mit Buchständern, Künstlerdrucken und T-Shirts müsse einfach sein, sagt er, und überreicht die Tasse zum Buch. Jedes Ding, jede Form ist Teil seines Grimmschen Gewebes. Fünf Bücher in fünf Jahren umfasst Schrats Vorhaben, alle 240 Märchen zeitgemäß bebildert herauszubringen.

Der erste Band „Schneefall“ ist gerade erschienen. Ein schwarzweißes Bilderbuch in graublauem Leineneinband, das mit rotem Buchschnitt und zwei eingangs und ausgangs platzierten Landschaftspanoramen in Rotorange und Lilablau prächtige Akzente setzt.

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Die frühromantische Textsammlung mit von Künstlern wie Ludwig Richter, Heinrich Vogeler, Otto Ubbelohde, Max Slevogt oder Werner Klemke im Stil ihrer Zeit angefertigten Illustrationen legt nicht nur 200 Jahre deutsche Kulturgeschichte offen. Von psychologischen und politischen Aufladungen ganz zu schweigen. Grimms Märchen sind schlicht Popkultur.

Ob Filme, Musicals, Graphic Novels, Bücher oder die ab diesem Wochenende allabendlich an die Fassade des Brüder-Grimm-Hauses in der Turmstraße projizierte Kunstaktion „15 Buchstaben – 101 Wörter“: Die volkstümlichen Kinder- und Hausmärchen der Brüder, die in Berlin auf dem Alten St. Matthäus-Friedhof ruhen, sind überall.

Das Mädchen im Papierkleid steht am Schulterblatt in Hamburg.

© Illustration: Henrik Schrat

Der gewaltigen Rezeptionsgeschichte ist sich Henrik Schrat wohl bewusst. „Mit etwas weichen Knien, aber auf einen Pinsel gestützt, stelle ich mich in diese Reihe“ schreibt er im Nachwort des Bandes, den Nora Gomringer mit einem Vorwort einleitet. Eines chinesischen Tuschepinsels übrigens, der zusammen mit der Zeichenfeder für die Schmuckinitiale, sein bevorzugtes Werkzeug ist.

"Mir liegt etwas daran, dass man diesen Erzählraum nicht nur den Heimatvereinen oder Disney überlässt“, sagt Schrat. Zumal seine Vorliebe für Märchen und historisierende Stilmittel, gewissermaßen eine Lebensleidenschaft ist. Im Atelier finden sich Holzintarsien und Scherenschnittsilhouetten.

Wandgemälde wie Scherenschnitte

Seine großformatige Wandbilder im Scherenschnitt-Stil zieren das Automuseum in Wolfsburg oder das Bundestags-Casino im Jakob-Kaiser-Haus. Letzteres mit einer Interpretation des Märchens vom Schlaraffenland. Schrat gefällt die „kulturelle Temperatur“ der alten Handwerkstechniken, die seinen zeitgenössisch aufgeladenen Bildern wie von selbst ein altmodisches, historisierendes Gepräge gibt.

Er dockt gern an bestehende Erzählungen und die dazu in Jedermanns Kopf vorhandenen Bilder an. „Damit löse ich mich aus dem hysterischen Gucken auf das Jetzt.“ Oder wie er es im Nachwort des Buches ausdrückt: „Man muss zurücktreten vom Alltagslärm, aber ihn unbedingt im Ohr behalten.“

Das Begrüßungsgeld wanderte in den "Groben Unfug"

Ins grafische Fach ist der 1968 in Greiz in Vogtland geborene Schrat schon im Malerei- und Bühnenbild-Studium an der Dresdener Kunsthochschule gerutscht. „Weil ich mehrteilige Erzählungen bevorzuge“. Sein Begrüßungsgeld hat der Fan von Comics und Graphic Novels nach dem Mauerfall im Berliner Comic-Laden „Grober Unfug“ umgesetzt. Und 2011 an der University of Essex über Comics und visuelle Kommunikation promoviert.

Die Verbindung von Text und Wort sei existenziell, sagt er. Oder besser: der Erzählraum, der sich öffnet, wenn die Bilder gleichberechtigt neben den Wörtern stehen. Als paralleler Erzählstrang, der Geschichten verstärkt, kommentiert, nicht einfach nur illustriert.

Und sie im Fall von Grimms Märchen der Niedlichkeit von Kinderausgaben entreißt und die armen, geschundenen Kreaturen, die sie bevölkern, in die Welt von heute stellt. In Berlin am Kottbusser Tor und am Bahnhof Friedrichstraße oder in Hamburger ans Schulterblatt, um einige der in „Schneefall“ verewigten realen Orte zu nennen.

Auch Berlin ist Grimm-Land. Hier tun sich märchenhafte Dinge am Bahnhof Friedrichstraße.

© Illustration: Henrik Schrat

Dass Schrat keine falsche Ehrfurcht vor dem Original kennt, zeigt die thematische Sortierung seiner mit „Rodung Kreuzung Lichtung“ betitelten Gesamtausgabe. Die Texte entstammen der letzten von den Grimms 1857 ergänzten Ausgabe. „Schneefall – Himmel und Hölle“ widmet sich christlichen Motiven und Andersräumen.

Nächstes Jahre folgt „Dornenrose“ mit klassischen Heldenreisen. Dann „Lumpengesindel“ bündelt Tiere und Menschen, „Blaubart“ über Blut und Dinge und 2025 der Abschluss namens „Gretel“ über Zauber und Zukunft. „Letzten Sommer saß ich in meiner Holzhütte im Kyffhäuser und habe Zettel hin- und hergeschoben“, berichtet der Künstler.

[Rodung, Kreuzung, Lichtung. Alle Grimmschen Märchen, neu bebildert von Henrik Schrat. Band 1: Schneefall. Vorwort von Nora Gomringer, Textem Verlag Hamburg, 264 S., 29 €.]

Der Kyffhäuser ist Sagenland und Schrat ein feuriger Erzähler, aber zum Glück kein Reiche aufrichtender Feuerbart wie Kaiser Barbarossa. Jedes Märchen beginnt mit einem Initial und endet mit einer kleinen Abschlussgrafik. Dazwischen liegen Detailzeichnungen und getuschte Panoramen, die den Text flankieren, überwölben, unterwandern, ein ganze Seite okkupieren oder in den Text hineinwandern.

Trotz abgeschnittener Finger, Schreigesichter, Schädel, Natterngezücht und Explosionen nimmt sich die auf Schwarzweiß reduzierte Bildsprache weniger blutig als der Märchentext aus. Gleich die allererste Geschichte „Von dem Machandelboom“ ist in ihrer Lakonie an Schrecken unüberbietbar. Da haut eine Stiefmutter dem ungeliebten Sohn mit dem Deckel der Apfelkiste den Kopf ab – bratsch! –, zerhackt und zerkocht ihn und verfüttert ihn an den ahnungslosen Ehemann, der so zum Kannibalen wird.

Cameos bringen Geld für Grimm

Die gute Schwester jedoch, die  Untat aufdeckt, sieht in Jeans, Shirt und Schnürschuhen wie ein Allerweltsteenie der Gegenwart aus. Ihr Gesicht wirkt skizziert, nicht im Detail ausgearbeitet, so wie Porträtzeichnungen auf andere Seiten. Die können Cameos sein, die Henrik Schrat für 250 Euro anbietet, um Geld für Grimm einzunehmen. Den ersten Band der Märchen hat Schrat vorfinanziert. Sein Standbein, eine Gastprofessur in China, läuft im Coronajahr per Online-Unterricht weiter.

Eltern, lassen zur Hochzeit der Kinder das junge Glück reinzeichnen. Kinder die verstorbene Mutter. Ein Paar ihr Häuschen bei Zittau, andere wiederum Landschaften. Auch diese nach Fotovorlagen gezeichneten Cameos sind Teil des Grimmschen Gewebes, in dem Schrat als Gimmick auch Promis wie Julian Assange (russiger Bruder) oder Luisa Neubauer (Frau Holle) verewigt.

Volkstümliche Märchen und partizipativer Ansatz per Webseite (grimmschrat.de), Newsletter, Blog, Instagram sind für ihn eins. „Ich bin ja nur ich“, sagt Schrat und fordert die Leute zum Mitreden auf. Bei der Frage, ob auf der Zeichnung „Schneefall“ ein Engel oder kein Engel auf dem Plattenbau stehen soll, haben 70 Leute mitdebattiert. Nun steht er drauf. Niemand könne ohne Berater regieren, grinst Schrat. „Die Idee, dass ein Künstler alles aus sich heraus schafft ist nur eins: romantischer Schwachsinn.“

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