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Zwischen Staat und Selbstorganisation. Kinder aus dem Chicagoer Sozialbauprojekt Ida B. Wells in „Public Housing“ (1997).

© Arsenal

Der Dokumentarfilmer Frederick Wiseman: Wie eine Gesellschaft funktioniert

Seit 55 Jahren dokumentiert Frederick Wiseman amerikanische Institutionen und die Menschen, die diese ausmachen. Das Kino Arsenal zeigt Filme dieses bedeutenden Werks.

Ein Frisörsalon in Jackson Heights im New Yorker Stadtteil Queens ist Schauplatz einer hitzigen Diskussion über ein Einkaufszentrum. Die bisherigen Mieter, kleine Geschäfte, sollen einem Baumarkt und der Filiale einer Cafékette weichen. Die Umgestaltung ist Teil einer schleichenden Gentrifizierung des Quartiers. US-Dokumentarfilmer Frederick Wiseman hat 2015 in „In Jackson Heights“ eine Momentaufnahme der Nachbarschaft gedreht.

Gut drei Stunden lang fügt er spontane und geplante Zusammenkünfte in Waschsalons, Delis, Schönheits- und Frisörsalons zum Bild einer Gemeinschaft zusammen, die von unten auf Veränderungen im Großen reagiert. „In Jackson Heights“ ist der aktuellste Film des umtriebigen Wiseman, den das Arsenal im Rahmen einer 21 Filme umfassenden Retrospektive des heute 92-Jährigen zeigt.

Wiseman debütierte 1967 mit „Titicut Follies“ über eine psychiatrische Anstalt des US-Justizvollzugs. Bis in die 1990er Jahre widmeten sich seine Filme Institutionen des Gesundheits- und Sozialsystems, des Justizvollzugs. Ende der 1980er Jahre erweitert er mit „Central Park“ seine Themenwelt. Es entstehen nun eine Reihe von Porträts von öffentlichen Orten und den Menschen, die sich an ihnen zusammenfinden.

1997 widmet porträtierte Wiseman in „Public Housing“ die Ida B. Wells Homes in Chicago, einem berüchtigten Bauprojekt mit über 1500 Wohnungen. Der Film wechselt zwischen Szenen staatlichen Zugriffs auf die Anwohner:innen durch Polizei und Fürsorgeeinrichtungen und Elementen der Selbstorganisation. In der Eröffnungsszene telefoniert Helen Finner, die Präsidentin des Bewohner:innenrates, auf der Suche nach einer Wohnung für eine junge Mutter und ihr Kind. Die junge Frau hangelt sich von Schlafplatz zu Schlafplatz, um nicht auf der Straße zu landen.

Finner redet sich angesichts von Obdachlosigkeit und gleichzeitigem Leerstand in Rage. Eine Wut, die man im Verlauf des Films zunehmend nachvollzieht. An Problemen mangelt es nicht. Arbeits- und Obdachlosigkeit, sowie Drogen prägen die Wohnblocks. Doch die einzige praktische Hilfe, die die Bewohner:innen bekommen, ist ein Kammerjäger gegen die Kakerlaken in der Wohnung.

Staatliches Handeln und Selbstorganisation

Wisemans Film entstand fünf Jahre vor dem Abriss der Ida B. Wells Homes. Die Gegenüberstellung staatlichen Handelns und zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation markiert den Übergang in Wisemans Werk von Institutionenporträts im Direct-Cinema-Stil, die eher auf die Handlungsspielräume in klar abgesteckten Rahmen konzentriert waren, zu offeneren Interaktionen.

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1975 widmete sich Wiseman in „Welfare“ dem Alltag in der New Yorker Sozialbehörde. Von rechts versucht eine Begleiterin Valerie Johnson zu trösten und zu beruhigen, während links eine ältere Dame über ihre Schulter hinweg eine Abschiedstirade an den Sachbearbeiter hinter dem Tresen loslässt. Johnson ringt mit den Tränen, sammelt sich kurz und beginnt dann dem Sachbearbeiter ihr Problem zu schildern.

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Durch das Stimmengewirr entfaltet sich eine kafkaeske Geschichte von falsch abgeschriebenen Adressen und Sozialversicherungsnummern. „Das bin ich, das bin ich“, ruft die junge Frau, als die Akte endlich gefunden zu sein scheint. Doch auch das Dokument löst den bürokratischen Knoten nicht. „’Welfare’ handelt von der Beziehung der Leute zu Autorität und wie diese Autorität ausgeübt wird, was prägend dafür ist, in welcher Art von Gemeinschaft die Leute leben", beschrieb Wiseman damals in der „New York Times“ seine Arbeitsweise.

(Bis zum 29. Mai im Kino Arsenal)

In den 55 Jahren, die das Werk von Frederick Wiseman umspannt (sein jüngster Film „City Hall“ über das Rathaus von Boston lief 2020 auf dem Festival in Venedig), ist ein vielstimmiges Porträt der amerikanischen Gesellschaft entstanden. Die Filme fordern nicht nur aufgrund ihrer Länge von drei bis vier Stunden heraus, sie zwingen durch den Verzicht auf eine Kommentarstimme auch dazu, Verbindungslinien selbst herzustellen. In einem Interview aus den 1970ern sagte Wiseman: „Etwas, das mich in allen Filmen fasziniert, ist die Frage, wie man abstrakte, allgemeine Aussagen zu den Themen der Filme macht, nicht durch einen Erzähler, sondern indem man Ereignisse in der Montage zueinander in ein Verhältnis setzt.“

Dieser Verzicht auf einen Kommentator ist das Gestaltungselement, an dem sich der Kontrast etwa zu Ken Burns, dem anderen großen amerikanischen Dokumentarfilmer der Gegenwart, am besten festmachen lässt. Während Burns mit seinen Arbeiten zum Chronisten eines liberalen Selbstbilds der USA wurde, sind Wisemans Filme eine Erkundung der Gesellschaft von den Rändern her. Wisemans filmisches Werk ist durchzogen von dem Willen, aus der Interaktion zwischen den Menschen etwas über die Gesellschaft zu verstehen, die diese bilden.

Fabian Tietke

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