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Der Lyriker Wulf Kirsten 2014 in Weimar

© picture alliance / dpa / Michael Reichel

Der Dichter Wulf Kirsten ist gestorben: Süchtig nach Worten

Poetischer Weltrandläufer, Sprachforscher und Protagonist der legendären Sächsischen Dichterschule: Ein Nachruf auf Wulf Kirsten.

In seinen letzten Gedichten taucht einmal ein „wäldischer Pilgrim“ auf, der stets „auf Bodenhaftung bedacht“ seiner Wege geht. Hier bekräftigte Wulf Kirsten noch einmal seine große poetische Passion. Er war der leidenschaftliche Landschaftshistoriker unter den Gegenwartspoeten, der jede Parzelle seiner meißnischen Herkunftswelt genau erforschte.

Und er war einer der letzten Überlebenden der Sächsischen Dichterschule, die mit ihrer „Wortsucht“ bereits in den späten Sechzigerm die Dogmen der DDR-Literaturpolitik unterminierte. In einem abgelegenen sächsischen Weltwinkel, dem Rittergutsdorf Klipphausen, wurde Kirsten 1934 geboren. In dieser Gegend, auf den Elbhöhen zwischen Dresden und Meißen, hat der „entschlossene Landgänger“, wie er sich selbst nannte, die Geduld der Naturbeobachtung gelernt.

Er war in Weimar Abgeordneter des „Neuen Forums“

Dabei hat der Sohn eines Steinmetzes die Arbeit an der Poesie stets als achtsames Sprachhandwerk verstanden. Den Dichter definierte er als Sprachschöpfer, es gehe darum, „aus Wortfiguren Standbilder zu setzen“. In den Fünfzigern ließ er sich zur „Arbeiter-und-Bauern-Fakultät“ nach Leipzig delegieren, lernte die Weltliteratur kennen und faszinierte sich an seinen „Erweckungsbüchern“, den Gedichtbänden Peter Huchels und Johannes Bobrowskis.

Es geht darum, aus Wortfiguren Standbilder zu setzen

Wulf Kirsten

1964 veröffentlichte er dann seine ersten Gedichte in Zeitschriften und Anthologien. Bald darauf begann er, „angestachelt“ von Mundartenkunde und Wortbildungslehre, sprachkritische Fundbücher anzulegen und darin seltene oder vergessene Wörter seiner meißnischen Lebenswelt zu archivieren. „Auf wortwurzeln fasse ich fuß“: Dieser Vers, ursprünglich die programmatische Formel für den ersten, 1970 publizierten Gedichtband satzanfang, wurde sein poetisches Lebensmotto.

Schon in diesem Debütband meldete sich ein poetisch unverwechselbarer Dichter der „sozialen Naturbetrachtung“ zu Wort, der sein Ich als eine „redefigur aus erdreich“ in Beziehung setzte zu den „biographien aller sagbaren dinge“. Bereits ab 1962 arbeitete er am Wörterbuch der obersächsischen Mundarten mit, das es ihm nach eigener Aussage ermöglichte, abgesunkenes Wortgut wieder auszugraben und „in die Poesiesprache als Kolorit und Stilschicht hineinzunehmen“.

„Die Erde bei Meißen“ ist sein berühmtester Band

In der DDR war Kirsten einer der ersten Dichter, der die Destruktivkräfte einer rücksichtslosen Industrialisierung anprangerte. Noch bevor in der Bundesrepublik das Wort vom Waldsterben die Runde machte, schrieb Kirsten sein Warngedicht über den zum „Bleibaum“ mutierten Apfelbaum. Er registrierte auch die zerstörerischen Kräfte, die Fische leblos im Phenol-Fluß Elbe treiben ließen. Während der Wendezeit engagierte er sich in der Bürgerrechtsbewegung in Weimar und kam im März 1990 als Abgeordneter des „Neuen Forums“ ins Weimarer Stadtparlament. Wenige Monate später gab er, politisch desillusioniert, sein Amt als Fraktionsvorsitzender wieder auf.

„Bei mir“, resümierte der Dichter in seiner Dankrede zum Peter-Huchel-Preis 1986, „läuft so ziemlich alles auf Chronik und Lebensbericht hinaus.“ In „Die Erde bei Meißen“ (1986), seinem berühmtesten Gedichtband, topographierte er die untergehende „altväterliche Dorfwelt“ mitsamt ihren versunkenen Wörtern. Und in „Erdanziehung“ hat er sich zuletzt als Wanderer in „naturbelassener Wildnis“ imaginiert, den „nichts anficht“ und der schließlich aufgeht in der „physiognomie der landschaft“. In dieser Landschaft der „alten Dörfer“ ist der poetische Weltrandläufer Wulf Kirsten nun für immer verschwunden. Am Mittwoch ist er in Weimar gestorben. Er wurde 88 Jahre alt.

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