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Der Literaturkritiker Denis Scheck.

© picture alliance / Rolf Vennenbernd / dpa

Romane für die Coronakrise: Denis Scheck empfiehlt seine Top Ten

Die Krise ist eine Chance, um vieles nachzuholen - zum Beispiel: gute Romane. Literaturkritiker Denis Scheck gibt Tipps.

Die US-Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf hat herausgefunden, dass unser Gehirn durch das, was wir lesen, unwiderruflich geprägt wird – und zwar sowohl physiologisch wie intellektuell.

Das aber heißt nichts anderes, als dass Sie Ihr Gehirn irreparabel schädigen, wenn Sie einen Roman etwa von Sebastian Fitzek, Susanne Fröhlich oder Paulo Coelho lesen.

Da können Sie sich hinterher die nächsten zwanzig Jahre in Hölderlin-Hymnen oder Kafka-Parabeln vertiefen – irreparabel ist irreparabel, ein Fitzek, eine Fröhlich oder ein Coelho bedeuten für Ihr Gehirn dasselbe wie täglich fünf Schachteln Roth-Händle ohne Filter über drei Dekaden für Ihre Lunge.

Aus aktuellem Anlass daher nicht die „Spiegel“-Bestsellerliste mit Fitzek, Fröhlich und Co., sondern meine Top-Ten der Bücher, die in Corona-Krisenzeiten helfen können, kühlen Kopf zu bewahren.

10. Albert Camus: Die Pest (Deutsch von Uli Aumüller, Rowohlt, 349 S., 12 €.)

In der algerischen Stadt Oran lässt Camus den Arzt Rieux gegen die Pest kämpfen. Rieux weiß, daß „die dreißig großen Pestepidemien der Geschichte an die hundert Millionen Tote gefordert“ haben, aber Rieux weiß eben auch, dass ein toter Mensch nur „dann etwas wiegt, wenn man ihn tot gesehen hat“. Gegen die Epidemie hilft nur Solidarität, so die Quintessenz dieses Meisterwerks über den Einbruch eines Verhängnisses.

9. Dorothy Parker: Denn mein Herz ist frisch gebrochen (Deutsch von Ulrich Blumenbach, Dörlemann, 400 S., 34 €.)

Dorothy Parker zählt zu den wenigen Autorinnen, deren Texte mir Hilfe, Trost und Rat bieten, wenn Mätthei am Letzten ist und ich mit meinem Latein am Ende bin. Ihr Esprit und ihre spitze Zunge machten sie schon unter ihren Zeitgenossen legendär.

„Heterosexualität ist nicht normal, sondern bloß weit verbreitet.“; „Sieh mich bitte nicht in einem solchen Ton an!“; „Schönheit geht nur bis unter die Haut, aber Hässlichkeit reicht bis ins Mark.“

Von Parker stammt das schönste Selbstmord-Gedicht aller Zeiten und Sprachen, das sicher mehr Menschen abgehalten hat, sich das Leben zu nehmen, als alle Ratgeberliteratur: „Résumé / Razors pain you, / Rivers are damp, / Acids stain you, / And drugs cause cramp. / Guns aren't lawful, / Nooses give, / Gas smells awful. / You might as well live.“ In der Übersetzung von Ulrich Blumenbach: „Résumé / Klingen ritzen; / Flüsse sind nass; / Säuren ätzen; / Gift macht blass; / Colts sind strafbar; / Stricke könnten nachgeben; / Gas stinkt furchtbar; / Da kannst du auch leben.“

8. Charles M. Schulz: Peanuts (Werkausgabe in 26 Bänden, Carlsen, jeder Band ca. 344 S., 34 €.)

Dass ich mich mit einem kleinen glatzköpfigen Jungen mit abstehenden Ohren identifizieren kann, der seine Lebensziele nie erreicht und den das kleine rothaarige Mädchen nie erhören wird, kann niemand verwundern. Dass sich in Charles M. Schulz Welttheater en miniature aber auch unerschöpfliche Reserven an Zuversicht und Optimismus finden lassen, vielleicht schon. Was stärkt eine Seele besser als jenes berühmte Panel, in dem Charlie Brown und Snoopy auf einem Bootssteg sitzen und Charlie Brown sagt: „Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy.“ Worauf der weltweise Beagle erwidert: „Ja, das stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht.“

7. Giovanni di Boccacio: Das Dekameron (Deutsch von Albert Wesselski, Insel, zwei Bände, 988 S., 19 €.)

Sieben Frauen und drei Männer fliehen 1348 vor der Pest in ein Landhaus vor den Toren von Florenz und erzählen sich an zehn Tagen jeweils zehn Geschichten: alles, was man über die Angst bannende, das Selberdenken stärkende Kraft der Literatur wissen muss, ist in diesem Buch zu finden.

6. Kenneth Grahame: Der Wind in den Weiden (Deutsch von Harry Rowohlt, Kein & Aber, 238 S. 24 €.)

Haben Sie Kinder? Mit ihnen den Maulwurf und den Dachs, die Wasserratte und den herrlich aufgeblasenen Kröterich zu entdecken, ist eines der großen Vergnügen der Weltliteratur – idealerweise in der Übersetzung von Harry Rowohlt, der das auch genial als Hörbuch vorliest.

5. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Deutsch von Eva Rechel-Mertens, hrsg. von Luzius Keller, Suhrkamp, 5300 S., 98 €.)

Schluss mit allen Ausreden: wann, wenn nicht jetzt?

4. Arno Schmidt: Schwarze Spiegel (Suhrkamp, 154 S., 7 €.)

Fünf Jahre nach einem Atomkrieg trifft der letzte Mann auf der Welt endlich eine Frau. Aber diese Frau, seine Lebensliebe, verlässt ihn mit den Worten: „Morgen fahre ich ab: es ist gerade noch Zeit, ehe ich ganz behäbig werde. Du bist mir zu stark.“ Sollten Sie jemals verlassen worden sein, in dieser hochrochmantischen Liebesgeschichte kommt alles noch viel schlimmer.

3. Thomas Mann: Der Tod in Venedig (Fischer, 144 S., 11 €.)

Die Geschichte des alternden Erfolgsautors Gustav von Aschenbach, der sich am Lido-Strand in den Jüngling Tadzio verguckt, ist die Mustergeschichte schlechthin darüber, dass mitunter Liebe in bürgerlichen Existenzen noch größere Sauereien anrichtet als Pest, Typhus und Cholera zusammengenommen.

2. Cormack McCarthy: Die Straße (Deutsch von Nikolaus Stingl, Rowohlt, 256 S., 9, 99 €.)

Die tollste Post-Doomsday-Geschichte der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur: ein Junge und sein Vater wandern nach einer unbenannt bleibenden Katastrophe durch die Ascheödnis der USA, immer auf der Suche nach etwas zu essen und ständig auf der Hut vor allgegenwärtigen Kannibalen. Eine existentielle Parabel von enormer stilistischer Wucht.

1. Marlen Haushofer: Die Wand (List, 285 S., 10 €)

Stell Dir vor, Du bist von einem Moment auf den anderen durch eine Glaswand von Deiner Umgebung komplett isoliert: So geschieht es Marlen Haushofers Erzählerin, die nur mal einen Ausflug in die österreichischen Alpen unternehmen wollte. Eine packende feministische Vision, an deren Ende ein Mord steht – und eine Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt.

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