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Die Botanikerin Jessica (Tilda Swinton) wandelt desorientiert durch Bogotá.

© Kick the Machine

Tilda Swinton in „Memoria“: Dem Urknall auf der Spur

Das einzigartige Kino des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul folgt einer Traumlogik. Tilda Swinton begibt sich in „Memoria“ in diesen Bewusstseinszustand.

Von Andreas Busche

Träumt der Mensch vom Schlafen? Oder ist der Schlaf in der Traumwirklichkeit eine unerreichbare Bewusstseinsebene, weil die Träumenden just in diesem Moment ihren Zustand realisieren würden? Das Kino hat zum Traum-Bewusstsein, auch weil es der Kinoerfahrung so nahe steht (nicht zufällig entstand die Psychoanalyse etwa zur selben Zeit), schon immer ein symbiotisches Verhältnis gepflegt. In Christopher Nolans eschereskem „Inception“ bewegen sich die Schlafenden durch Träume wie in einer Architektur, die immer tiefer in das Unterbewusstsein führt. Und der Marvel-Film „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ erklärte Träume gerade zum Tor in unendlich viele Paralleluniversen.

Abseits solcher Blockbusterszenarien werden auch die Filme des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul gerne als Traumkino beschrieben. Sie folgen einer eigenen Logik, in der Bewusstseinszustände und Zeitenläufe durchlässig sind: Seelen wandern, die Verstorbenen treten mit den Lebenden in Kontakt. Alltägliche Wunder, die nicht zum Staunen anregen sollen, sondern unsere Empfänglichkeit für die feinstoffliche Welt trainieren. Im Traumkino schauen Menschen anderen Menschen sogar beim Schlafen zu.

„Ich träume nie“, sagt in „Memoria“ ein Mann, den die Botanikerin Jessica (Tilda Swinton) am Ufer eines Flusses antrifft, wo er vor seiner kleinen Hütte Fische schuppt. Traumlose Menschen müssten sich aus dem Kino Weerasethakuls im Grunde ausgeschlossen fühlen, aber Hernán, so heißt der Einsiedler, hat bereits eine höhere Bewusstseinsstufe erlangt; hier lenken Träume nur von den wesentlichen Informationen ab. (Er guckt auch keine Filme.)

Und dann begibt sich „Memoria“ an einen Ort, an dem die Gesetzmäßigkeiten des Kinos und die Traumlogik verschmelzen: Hernán legt sich zum Schlafen ins Gras am Ufer. Jessica setzt sich neben ihn und beobachtet den friedlich Schlafenden, fast sieben Minuten. Insekten zirpen, der Fluss plätschert, die Zeit vergeht und scheint doch still zu stehen. Filmische Wirklichkeit, expansiv und zugleich hochverdichtet.

Grenzen unserer äußerlich erfahrbaren Welt

Diese bewusstseinserweiternde Sequenz umfasst die Essenz von Apichatpong Weerasethakuls Kino, das mit jedem Film die Grenzen unserer äußerlich erfahrbaren Welt verschiebt. „Ich bin wie eine Festplatte", erklärt Hernán später Jessica. Er speichere alle Erfahrungen der Menschheitsgeschichte, der guten wie der traumatischen. „Und du bist meine Antenne.“ Da sitzen sie gemeinsam am Tisch in seiner Hütte, während auf der Tonspur eine lange zurückliegende Erinnerung zu hören ist; eine Flucht, eine Gewalttat. „Memoria“ erzählt, wie alle Filme Weerasethakuls, aus einer subjektiven Sicht, doch seine Perspektive ist universal, geradezu – die allerletzte Pointe – kosmisch.

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In „Memoria“, der in Cannes vergangenes Jahr den Preis der Jury erhielt, arbeitet Weerasethakul (2010 gewann er mit „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ die Goldene Palme) erstmals mit einem großen Namen des Weltkinos. Das introspektive Spiel Tilda Swintons macht seinen Film jedoch nicht zu einem Star-Vehikel. Swinton fungiert eher wie eine Membran, beziehungsweise – in Hernáns Worten – wie eine „Antenne“ in ein anderes Bewusstsein, eine andere Idee von Kino.

Jessica ist ins kolumbianische Bogotá gereist, um ihre kranke Schwester Karen (Agnes Brekke) zu besuchen und regionale Orchideenarten zu erforschen. Sie hat möglicherweise kürzlich ihren Mann verloren (der Film macht nur Andeutungen), doch ihre Desorientierung ist schon an ihrem zögerlichen Gang durch die Stadt und in der Natur spürbar – wohin Weerasethakuls langjähriger Kameramann Sayombhu Mukdeeprom („Call Me By Your Name“) ihr in traumwandlerischen Einstellungen folgt.

Und dann ist da dieses Geräusch: ein Knall – „wie ein Rumpeln aus dem Kern der Erde“ –, den nur Jessica hören kann. Um seiner Ursache auf die Spur zu kommen, sucht sie einen Musikproduzenten auf, der ebenfalls Hernán heißt; eine frühere Inkarnation des gleichnamigen Einsiedlers, diesmal gespielt von Juan Pablo Urrego.

Stadt, Natur: „Memoria“ entfalten einen tranceartigen Flow.
Stadt, Natur: „Memoria“ entfalten einen tranceartigen Flow.

© Kick the Machine

Er versucht, das Geräusch im Tonstudio zu rekonstruieren, aber möglicherweise ist der Klang gar nicht irdischen Ursprungs. Der Knall verfolgt Jessica auf der Straße, in der Natur, im Universitätsklinikum, wo sie sich mit der Anthropologin Agnes (Jeanne Balibar) anfreundet, die in Kolumbien Tausende Jahre alte menschliche Überreste exhumiert. „Ich glaube, ich werde verrückt“, meint Jessica einmal zu ihr. „Es gibt Schlimmeres“, entgegnet Agnes.

(Seit Donnerstag in den Kinos, ab 5. August auf Mubi)

Man möchte aus den Filmen Apichatpong Weerasethakuls am liebsten gar nicht mehr aufwachen. Sie entfalten ihren tranceartigen Flow allerdings auch nur, lässt man sich auf die offene Wahrnehmung dieses Kinos ein, in dem Geräusche aus gewalttätigen Epochen der (Kolonial-)Geschichte und der Klang der Natur eine gleichermaßen konkrete Realität verfassen.

In dieser Wirklichkeit ist es unerheblich, ob die Filme in Thailand oder Kolumbien spielen, eher sogar im Gegenteil: Ihr gebrochenes Spanisch, sagt Karens Ehemann Juan (Daniel Giménez Cacho) zu Jessica, sei perfekt für Poesie. Weerasethakuls Kino ist trotz – beziehungsweise gerade wegen – seiner Schönheit empfänglich für alles Vergängliche, das in neuer Form wiederbelebt wird. Juan möchte ein Gedicht über Pilze schreiben: „Der Duft eines Virus. Das Parfüm des Verfalls.“ Es ist ein Ideal, dem „Memoria“ in seinen luzidsten Momenten ganz nah kommt. Synästhetische Erfahrungen.

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